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Erste Frauenmehrheit in Schweizer Kantons-Parlament

Tag der Frauen: Regierungsrats-Kandidatin Florence Nater (Mitte) am Sonntag in Neuenburg. Für die Regierungsratswahlen folgt ein zweiter Wahlgang. Die Parlamentswahl ist entschieden. Keystone / Jean-christophe Bott

Seit der gestrigen Wahl ins Neuenburger Parlament vertreten 58 Frauen und 42 Männer die kantonale Wählerschaft. Das ist erstmalig in der Schweizer Geschichte. Wie kam es dazu? Eine Analyse.

Angekündigt hat sich die Neuenburger Revolution nicht: 2013 zählte das Neuenburger Parlament nur 23% Frauen, 2017 waren es erst 34 Prozent. Das waren bestenfalls schweizerische Durchschnittswerte. Doch nun sprang die Frauenvertretung gleich um 24 Prozentpunkte nach oben.

Was ist los in der Schweiz und in Neuenburg?

Der neue Schweizer Rekord

Seit 2019 berichtet die WahlstatistikExterner Link in der Schweiz wiederkehrend von einer neuen Welle der verbesserten politischen Frauenrepräsentation.

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Auf Bundesebene kennt der heutige Nationalrat einen Frauenanteil von 42%, der Ständerat einen solchen von 26%. Auch das sind Schweizer Rekorde. Der Unterschied der Frauenanteile in den beiden Kammern hat mit dem Wahlrecht zu tun. Das Verhältniswahlrecht, das beim Nationalrat zur Anwendung kommt, erleichtert es den Frauen, ins Parlament einzuziehen. Das hielten Forscher Zentrum für Demokratie AarauExterner Link vor Wochenfrist fest.

Die höchsten Frauenvertretungen auf Kantonsebene kannten bisher die Kantone Basel-Stadt (42%, 2020), Zürich (40.6%, 2019) und Basellandschaft (40%, 2019). Sie alle sind urban geprägt.

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Höchstwerte gibt es neuerdings in ausgewählten Stadtparlamenten. Die Bundesstadt Bern setzte im November 2020 mit 70 % den Trend. Seither folgten Lausanne und Freiburg mit Frauenmehrheiten.

Die neue Welle der Frauenpartizipation

Diese Dynamik geht zurück auf 2019, da kam es in der Schweiz zum zweiten Frauenstreik. Benachteiligung in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik sind seither vermehrt ein öffentliches Thema. Die Zeichen stehen nicht direkt auf Sturm, aber es gibt anhaltende Veränderungen.

Frauenstreik am 14. Juni 2019, hier eine Aufnahme aus Zürich. Keystone

Dabei geht die Politik neuerdings voraus, wie eine eben publizierte Studie der Uni LausanneExterner Link zeigt. Geringer, aber sichtbar sind die Veränderungen im öffentlichen Dienst. Am wenigsten ändert sich die Privatwirtschaft.   

In der Politik setzte die Bundesebene den Massstab. Die Wahl des Bundesrats 2018 war der Auftakt. Gewählt wurde damals eine dritte Frau in die siebenköpfige Landesregierung. Seither haben SP, DieMitte und FDP je ihr nationales Frauenvorbild im Bundesrat.

Helvetias Ruf wird gehört

“Helvetia ruft!”Externer Link ist ein Teil der neuen Frauenbewegung. Die Organisation betreibt überparteiliche Sensibilisierungsarbeit, verbunden mit beinhartem Lobbying für Frauen. Dank dieser Arbeit stieg 2019 der Anteil von Frauen auf den Wahllisten messbar an. Vor den letzten Nationalratswahlen lag er konstant bei einem Drittel, dann sprang er auf über 40 Prozent.

Das Resultat der Bemühungen zeigt sich bei fast allen Parteien. Am höchsten war der Frauenanteil 2019 auf den Wahllisten der SP, gefolgt von Grünen und Grünliberalen. Es folgten FDP, SVP und CVP (heute Mitte). Letztere hatte, wie das Bundesamt für Statistik belegte, bei der Frauenvertretung als einzige Partei einen negativen Trend auf den Nationalratslisten.

Veränderungen finden sich aber auch bei den Wählenden. 2019 war die durchschnittliche Wahlquote für eine nominierte Frau erstmals grösser als für einen aufgestellten Mann. Das beflügelte die Aktivistinnen. Die Bewegung “Helvetia ruft!” ist seit einem Jahr denn auch in den Kantonen aktiv.

Neuenburg ist nun eine dieser Erfolgsgeschichten. Da war zuerst die Zusammensetzung der Wahllisten. Im Schnitt hatte sie 40 Prozent Frauen – mit dem bekannten Links/Rechts-Unterschied: mehr Frauen in der Auswahl bei den linken Parteien, weniger auf der rechten Seite. Dann kam das WahlverhaltenExterner Link dazu.  Bei den Grünen sind neu 78% aller Gewählten Frauen, bei der GLP sind es 75%. Bei der SP sind 71 % und selbst beim POP machen sie 63% aus. Es gibt also breite Wählerschaften, die aus einer Auswahl von Männern und Frauen ganz bewusst die Frauen wählen. Bei der Mitte bleibt der Vergleichswert bei einem Viertel. Bei der SVP bei 38% und bei der FDP sind es 41%.

Der weltweite Vergleich

Nach Startschwierigkeiten hat die Schweiz bei der Repräsentation von Frauen beachtlich aufgeholt. Bei der nationalen Volksvertretung liegt sie gemäss UNO-StatistikExterner Link seit 2021 global an 20. Stelle.

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Drei Erklärungen für die Spitzenresultate drängen sich auf:

  • Brüche in der Männergesellschaft durch Kriege wie in Ruanda (Rang 1)
  • Staaten wie Cuba mit nur einer Partei (Rang 2)
  • und Gesellschaften, die als Stärkung bewusst auf  Diversität setzen, wie das in Neuseeland (Rang 5) der Fall ist.

In der Schweiz dürften eine oder zwei dieser Erklärungen zutreffen: Der Klimawandel hat die nationale Politik erschüttert. Nie in den letzten 100 Jahren waren Wahlen in der Schweiz so volatil wie im Herbst 2019.

Die Anstrengungen verschiedener der Parteien, die Frauenvertretung zu erhöhen, sind durchaus Teile des «Diversity»-Programms.

Feminisierung der Wählerschaft links der Mitte

Die Wahlforschung zeigt, wie das veränderte Umfeld wirkt.

2019 rückte gemäss nationaler Nachbefragung der Uni Lausanne die weibliche Wählerschaft in der Schweiz nach links. 46% der Frauen wählten SP, Grüne oder Grünliberale. Bei den Männern war es nur ein Drittel.

Mit der Feminisierung der Wählerschaften links der Mitte ändert sich auch das Wahlverhalten der Männer in diesem Spektrum. Eine Untersuchung zu den Kantonsratswahlen 2019Externer Link im Kanton Zürich präzisierte das. Gezeigt werden konnte von der Uni Zürich, dass namentlich bei der SP, GLP und Grünen die Wählenden Frauen an sich ausdrücklich bevorzugen.

Kollateral-Effekt des neuen Wahlrechts

Dennoch braucht es eine spezifische Erklärung für den riesigen Sprung im Kanton Neuenburg. Es gibt sie: Der Jurakanton änderte auf die Wahlen 2021 hin sein Wahlrecht. Zuvor war dieses durch die Idee der regionalen Repräsentation geprägt. Sechs Wahlkreise kannte man. Die Absicht dabei war, die Gewählten nahe an die lokale Wählerschaft zu binden.

Nun wurden die NeuenburgerInnen aus diesen Wahlkreisen befreit. Gesucht wurden somit kantonale Persönlichkeiten, die kantonale Identifikation herstellen können. Regionale Gleichgewichte werden mit dem neuen Wahlrecht erst nachträglich hergestellt.

Revolutionäre Entwicklung: Blick auf den Kantonshauptort Neuenburg. © Keystone / Gaetan Bally

Was ist aber geschehen? Es hat sich ein Kollateral-Effekt ergeben. Gemeint war in Neuenburg zwar der Ausgleich zwischen den Regionen voller Interessensgegensätze. Ausgewirkt hat sich das neue Wahlsystem offensichtlich auf die Repräsentation der Geschlechter in der Politik.

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Denn die Lokalpolitik ist männlich geprägt. Je mehr sie die kantonale Politik bestimmt, umso stärker wirken die tradierten Faktoren der Repräsentation: Man wählt die Männer, die sich in der Umgebung hervortun.

Je mehr überlokale Repräsentation angestrebt wird, umso eher haben Frauen Chancen, gleich gut oder besser vertreten zu sein.

Ganz überraschend ist das in der neuen Ära doch nicht!


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