«Vertretung» der Kurden Nordsyriens in Genf lässt Wogen hochgehen
Die von keinem Staat anerkannte und von den Friedensverhandlungen ausgeschlossene autonome Region im Nordosten Syriens bemüht sich um eine Annäherung an die Akteure im internationalen Genf. Die Türkei ist wütend, die Schweiz peinlich berührt.
Es handelt sich um ein einfaches Büro in einem bescheidenen Genfer Gebäude. Die Ankündigung der Eröffnung am Montag, den 9. August, löste jedoch einen diplomatischen Tsunami aus: Die Autonome Verwaltung Nordostsyriens (AANES) hat dort eine Vertretung eröffnet.
Ziel ist es, «die Beziehungen zu den Schweizer Akteuren zu stärken, insbesondere im Hinblick auf die in Genf stattfindenden Konferenzen zur Lösung der Syrien-Krise», so ihr Direktor Hekmat Ibrahim.
Er fügt hinzu, dass diese Initiative nicht die erste in Europa ist, da bereits mehrere Vertretungen eröffnet worden seien, so in Frankreich, Deutschland, Schweden und den Beneluxländern.
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Doch der Schritt ist höchst delikat: Was ist mit der «Vertretung» einer territorialen Einheit gemeint, die von keinem Staat anerkannt wird? Die AANES wurde 2018 gegründet, nachdem die Region 2012 im Zusammenhang mit dem syrischen Bürgerkrieg Autonomie erhalten hatte.
Sie hat zwischen vier und fünf Millionen Einwohnerinnen und Einwohner – überwiegend Kurden, aber auch Araberinnen, Assyrer, Christinnen, Turkmenen und Yezidinnen – und umfasst knapp 30% des syrischen Territoriums. Über seine Streitkräfte, die Syrischen Demokratischen Kräfte, unterhalten die kurdischen Autonomiebehörden eine enge militärische Zusammenarbeit mit den USA und der internationalen Koalition.
Nachdem sie wesentlich zur Niederlage von Daesh, den Terrormilizen des Islamischen Staats, beigetragen haben, sehen sie sich nun mit dem heiklen Problem der IS-Gefangenen konfrontiert. Die europäischen Länder verweigern deren Rücknahme. Ausgenommen einige Frauen und Kinder, die einige Staaten heimreisen lassen.
Einem Bericht von Human Rights Watch zufolge befanden sich im März 2021 immer noch fast 63’400 Frauen und Kinder in den Lagern und 10’000 Männer und 700 Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren in den Gefängnissen. Die Festgehaltenen stammen aus 58 Ländern.
Unterschiedliche Standpunkte
Der Standpunkt Berns ist sehr klar: Es handelt sich nicht um eine diplomatische Vertretung, sondern um einen Verein im Sinne des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, dessen Bestimmungen nicht sehr restriktiv sind. Es sei denn, es wird ein Verein mit einem illegalen Zweck im Sinne des Schweizer Rechts gegründet.
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«Für die Schweiz ist es ein Verein, für die Kurden und die anderen Mitglieder der Region ist es eine Delegation. Wir sind mit verschiedenen Standpunkten konfrontiert», bemerkt Jordi Tejel, Professor an der Universität Neuenburg und Spezialist für die Kurdenfrage.
«Für die Schweiz ist es ein Verein, für die Kurden und die anderen Mitglieder der Region ist es eine Delegation.» Jordi Tejel, Experte für die Kurdenfrage
«Es handelt sich um eine Art Politik der vollendeten Tatsachen, kleine Schritte auf dem Weg zur Anerkennung als Gesprächspartner für die Schweiz und die europäischen Länder, die UNO und das internationale Genf», so der Experte weiter. «Es ist die gleiche Strategie, die die irakischen Kurden seit den 1990er-Jahren verfolgen. In Bern hatten die Kurden eine Art Konsulat eingerichtet, wo sie sogar Visa ausstellten. Das sind Dinge, die nicht so viel sagen, aber eine Realität schaffen. Dennoch gehe ich davon aus, dass es diesmal eher darum geht, sich Gehör zu verschaffen, denn als Staat anerkannt zu werden, denn das ist er nicht.»
Türkei schäumt vor Wut
Die Türkei reagierte äusserst ungehalten auf die Eröffnung dieser «Vertretung». Die Autonomieverwaltung in Nordsyrien besteht zwar nicht nur aus Kurden, aber an ihrer Spitze steht eine kurdische Partei, die YPD, die Partei der Demokratischen Union.
Eine Partei, die nach Ansicht Ankaras der PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans, nahesteht, einer bewaffneten kurdischen politischen Organisation. Sie ist vor allem in der Türkei, aber auch in Syrien, im Iran und im Irak aktiv und wird von der Türkei und vielen anderen Ländern als Terrororganisation eingestuft.
«Die Türkei weigert sich, die Demokratischen Kräfte Syriens anzuerkennen, zu denen die YPG (der bewaffnete Flügel der YPD, die Red.) gehört. Sie beschuldigt die Schweiz, die PKK und damit den Terrorismus zu unterstützen. Aber die Realität sieht ganz anders aus», sagt Mehmet Balci, Mitbegründer und Co-Direktor von Fight for Humanity, einer in Genf ansässigen NGO, die sich für Menschenrechte und humanitäres Recht in der Region einsetzt.
«Es ist ein absoluter Skandal, dass die UNO die AANES wegen des Widerstands der Türkei nicht an den Verhandlungstisch lässt, während alle terroristischen und islamistischen Gruppen teilnehmen», sagt Marco Sassoli, Professor für humanitäres Völkerrecht an der Universität Genf.
«Dennoch ist sie einer der am besten organisierten staatlichen Akteure mit der stabilsten Verwaltung. Die AANES bemüht sich, die Kriegsgefangenen zu beurteilen und sie festzuhalten, ohne sie verhungern zu lassen. Soweit ich weiss – aber ich bin nicht vor Ort – verhält sie sich besser als die anderen.»
Sie unterhält eine gut organisierte Verwaltung, die verschiedene Kommissionen einsetzt – vom Bereich Gesundheits- und Bildungswesen, der Verteidigung und Aussenbeziehungen bis zu den Universitäten mit mehr als 700’000 Studenten. Dazu kommen Dutzende von Krankenhäusern, Gemeinden und Gefängnisse sowie die Justiz, erklärt Mehmet Balci.
Ferner betonen die kurdischen Autonomiebehörden stets ihre egalitäre Toleranz, was die Stellung der Frauen und der Religionen betrifft.
Schwierige Überstellung von Gefangenen
Jordi Tejel sagt, dass der YPG vorgeworfen wird, Minderjährige zu rekrutieren und andere kurdische Parteien an den Rand zu drängen, um eine dominierende Position zu erringen. «Das Paradoxe ist, dass das Projekt der kurdischen Autonomie-Verwaltung darin besteht, für alle Ethnien und Religionen offen zu sein und die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern.
Dies aber nur, wenn man mit dem Parteiprogramm einverstanden ist. Diejenigen, die sich nicht an ihre Ideologie halten, sind weder in der Verwaltung noch auf regionaler oder kommunaler Ebene vertreten. Es ist paradox, aber am Ende haben bei allen Revolutionen die Revolutionäre immer Recht…» Soweit die Einschätzung Tejels.
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Lachen die IS-Rückkehrer über den Schweizer Rechtsstaat?
Marco Sassoli sagt: «Ob hier oder dort, man muss mit diesen Leuten reden, denn sie halten Schweizer Bürger fest, die die Schweiz nicht zurücknehmen will.» Aus rechtlicher Sicht sei dies jedoch sehr heikel, denn wenn sie von einem Staat verurteilt würden, könnten sie zur Verbüssung ihrer Strafe in die Schweiz überstellt werden.
«Ob hier oder dort, man muss mit diesen Leuten reden, denn sie halten Schweizer Bürger fest, die die Schweiz nicht zurücknehmen will.» Marco Sassoli, Professor für humanitäres Völkerrecht
«Wenn sie jedoch von einem Gericht eines nichtstaatlichen Akteurs wie der AANES verurteilt und an die Schweiz ausgeliefert werden, können sie ihre Freilassung beantragen, da die Verurteilung nach Schweizer Recht nicht anerkannt wird», so Sassoli.
Laut Hekmat Ibrahim, dem Leiter der neuen AANES-Vertretung in der Schweiz, «gibt es viele gemeinsame Themen, die uns verbinden und die wir mit der internationalen Gemeinschaft teilen, darunter die Bekämpfung des Terrorismus und die Konsolidierung von Sicherheit und Stabilität».
Der Terrorismus sei zu einer internationalen Bedrohung geworden, und um ihm ein Ende zu setzen, sei die Mitwirkung aller, einschliesslich der Autonomiebehörde notwendig, sagte er. Denn diese vertrete grosse Zahl syrischer Akteure.
«Im Hintergrund steht die Frage der kurdischen Selbstbestimmung, die eines Tages gelöst werden muss und die nicht unbedingt einen unabhängigen Staat bedeutet. In der Zwischenzeit haben die Vereinigten Staaten die Kurden genauso im Stich gelassen wie die Afghanen», sagt Sassoli.
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