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Die “Generation Corona” ernst nehmen

Ein wachsender Teil der jungen Generation in der Schweiz hat genug von den Einschränkungen durch die Corona-Schutzmassnahmen. Die Krawalle, die es in den letzten Tage in St. Gallen gab, sind nur die Spitze des Eisbergs, sagt Claude Longchamp. Keystone

Der Strassenprotest in europäischen Staaten gegen die Corona-Regimes hat die Schweiz erreicht. Damit steht auch sie vor einer neuen gesellschaftlichen Herausforderung. Es ist Zeit, die Anliegen der "Generation Corona" ernst zu nehmen.

Bereits ist von der “Generation Corona” die Rede. Das sind junge Erwachsene, die sich um ihre Chancen geprellt sehen, ein Leben ausserhalb der Herkunftsfamilie aufbauen zu können, ins Berufsleben einzusteigen, Familien zu gründen und Träume zu verwirklichen.

Der Druck dürfte weder kurz- noch mittelfristig kleiner werden. In diesem Jahr werden in der Schweiz die meist gesunden, jungen Menschen beim Impfen keine Priorität haben. Darüber hinaus drohen Diskriminierungen für Nicht-Geimpfte im Alltag. Bald schon wird es auch um die Tilgung der Corona-Schulden gehen. Wer heute jung ist, zahlt länger mit.

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Das sind keine schönen und guten Aussichten. Aber ist es genügend Treibstoff für einen Konflikt?

Definiert die Soziologie Generationenkonflikte, hat sie nicht die Ablösungsprobleme der Kinder von ihren Eltern vor Augen. Vielmehr geht es entweder um Gegensätze zwischen Jung und Alt an sich oder zwischen jungen Menschen aus verschiedenen Generationen.

Altersspezifische Unterschiede in Volksabstimmungen

Die Schweizer Demokratie bietet mit ihren vielen Volksabstimmungen zahlreiche Möglichkeiten, denkbare Generationenkonflikte genauer zu bestimmen.

In drei Themenbereichen gibt es wiederkehrend relevante Unterschiede im Stimmverhalten nach Alter, nämlich in Fragen

  • der Rentenversicherung,
  • des Wertewandels und
  • der Kontrolle durch Staat und Gesellschaft.

Das hat drei Ursachen: Da sind zuerst unterschiedliche Interessen zwischen den Altersgruppen. Dann spiegeln sich Lebenserfahrungen der Generationen, als sie politisiert wurden. Schliesslich ist der Widerspruch zum Staat, der Macht ausübt, vor allem bei jüngeren Bewohner*innen grösser.

Gesellschaftliche Folgen des Corona-Regimes

Polarisiert die Corona-Krise die altersbedingten Konfliktlinien der Schweiz neu?

Wegen der virusbedingten Sterblichkeit sind die über 70-Jährigen mit dem Auftreten des Virus biologisch benachteiligt. Sie vor Ansteckungen zu schützen, ist die höchste Priorität des Corona-Regimes. Zudem muss die Ausbreitung des Virus durch Einschränkung zwischenmenschlicher Kontakte gebremst werden.

Beides ist mit einem erheblichen Verlust an Sozialem im Freundeskreis, bei der Arbeit und in der Freizeit verbunden. Was das heisst, zeigt das Corona-Monitoring der SRG exemplarisch. Dieses nimmt in regelmässigen Abständen den Puls der Schweizer Bevölkerung gegenüber der Pandemie und den getroffenen Massnahmen.

Was das Corona-Monitoring der SRG zeigt, nennt die WHO Europa “Pandemiemüdigkeit”.Externer Link Davon betroffen sind mit der Dauer von einschneidenden Massnahmen alle. Namentlich sorglose Menschen verabschieden sich aber aus dem gemeinsamen Kampf gegen das Virus.

Die WHO rechnet, dass mindestens die Hälfte der Menschen in Europa in der einen oder andern Form pandemiemüde ist. Sie empfiehlt, die Bevölkerung in die Gestaltung von Massnahmen besser einzubeziehen und neue Möglichkeiten zu schaffen, vorhandenen Bedürfnissen gerecht zu werden.

So hat die Angst, selber zu erkranken, seit dem anfänglichen Höhepunkt im März 2020 insgesamt abgenommen. Sie ist jedoch altersabhängig geworden: Bei den U35 sehen sich gerade noch 20% potenziell betroffen. Anders sehen es die Rentner*innen, die sich immer noch zur Hälfte fürchten, infiziert zu werden.

Dafür ist die Angst, sozial isoliert zu werden, mit der Dauer des Shutdowns insgesamt gewachsen. Auch hier öffnet sich eine altersabhängige Schere: Zwei Drittel der unter 35-Jährigen fürchten zwischenzeitlich Einsamkeit – Tendenz unvermindert steigend. Bei den über 65-Jährigen ist dies nur zur Hälfte der Fall. Und es werden weniger.

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Una persona mayor frente a una pantalla de computadora

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Proteste auf der Strasse als Speerspitze

Über Ostern eskalierte der Protest gegen die Corona-Massnahmen auch in der Schweiz. Es ist die Speerspitze des Unmutes junger Menschen gegen die Kontrollen durch das Corona-Regime.

Gewalttätig sind nur kleine Minderheiten, die sich unter die Protestierenden mischen. Genutzt werden die Demonstrationen durch Rassist*innen und Verschwörungstheoretiker*innen.

Bei den meisten Protestierenden dominiert indes eine Art Eskapismus. Angesichts der entstandenen geschlossenen Gesellschaft wächst die Bereitschaft, einfach mal auszubrechen, rasch an.

Gesellschaft ist herausgefordert

Auch diese jungen Menschen werden zur Kenntnis nehmen müssen: Nicht die Massnahmen der verhassten Behörden sind die Ursache ihrer Misere. Vielmehr ist es das Virus. Solange es nicht beherrscht werden kann, beherrscht es die Gesellschaft.

Umgekehrt muss sich die Gesellschaft vermehrt selbst den Spiegel vorhalten. Unter dem Corona-Regime hat sich die Aufmerksamkeit massiv zuungunsten der jungen Menschen verschoben. Auf Dauer verbaut das tatsächlich einer ganzen Generation die Perspektiven.

Politische Signale ernst nehmen

Umso wichtiger ist es, die politischen Signale aus der Corona-Generation aufzunehmen. Dazu gehört das jüngste Sofort-Programm von fünf Schweizer Jungparteien. Von der Mitte bis ganz links haben sie sich zusammengefunden. Abseits stehen die Jungfreisinnigen und die Junge SVP; sie wollen keine staatlichen Unterstützungen.

Die Forderungen der Jungparteien beginnen mit der sofortigen Beteiligung der Jugendlichen am Corona-Krisenmanagement. Es beinhaltet die Nicht-Diskriminierung junger Menschen bei Massnahmen wie Testen und Impfen. Es umfasst auch Lockerungen speziell für Jugendliche, sobald es die epidemiologische Lage zulässt. Und es verlangt die Unterstützung von jungen Menschen mit psychischen Problemen oder Schwierigkeiten bei der Stellensuche.

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Bei Untätigkeit drohen Generationenkonflikte

Sind das jetzt die erwarteten Generationenkonflikte? Ich meine nein!

Für solche Konflikte bräuchte es eine härtere Polarisierung zwischen den Altersgruppen. Voraussetzung dafür wäre zum Beispiel eine Besserstellung der jungen Menschen und eine gleichzeitige Benachteiligung der älteren. Diese Voraussetzung ist nicht gegeben. Die Solidarität unter den Generationen bleibt darum gross.

Doch die Mehrheit der unzufriedenen jungen Menschen will wegen der Pandemie einfach nicht an die Wand gespielt werden. Weder während der Krise, noch danach.

Diese Botschaft wird nicht verhallen, bis Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Generationengerechtigkeit in der Lebensführung, der Arbeitsverteilung und der Sozialversicherungen realisieren werden. Sonst drohen effektiv Generationenkonflikte entlang der Interessen von Alt und Jung und der Wertverschiebungen von Jungen, die heute politisiert werden.

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