Alt Bundesrat Pierre Graber ist tot

Alt Bundesrat Pierre Graber ist im Alter von 94 Jahren in einem Lausanner Spital nach einem Hirnschlag gestorben.
Graber war von 1970 bis 1978 Aussenminister; seine Amtszeit stand im Zeichen der Öffnung der Schweiz.
Pierre Graber war in der Nacht zum Samstag wegen eines Hirnschlags hopitalisiert worden. Er starb im Laufe des Tages, wie am Montag bekannt wurde.
Graber wurde am 6. Dezember 1908 im neuenburgischen La-Chaux-de-Fonds geboren. Geprägt von seinem Vater Ernest Paul Graber, Chefredaktor der sozialdemokratischen Tageszeitung «La Sentinelle», betätigte er sich bereits ab 1925 in der SP-Jugend.
Er studierte in Neuenburg und Wien, wo er 1931 ein juristisches und ein wirtschaftswissenschaftliches Lizenziat erwarb. 1933 eröffnete er in Lausanne eine Anwaltskanzlei.
Graber trat der Sozialdemokratischen Partei (SP) bei und wirkte ab 1934 in den Legislativen von Lausanne und dem Kanton Waadt, ferner als Stadtpräsident von Lausanne (1946-1949) und als Waadtländer Regierungsrat.
1942 bis 1969 (mit einer Unterbrechung 1963) war er Nationalrat und wirkte 1967 in der Jura-Kommission mit.
Amtsantritt von Terrorismus überschattet
Als 61-Jähriger wurde Graber am 10. Dezember 1969 – als erster Westschweizer Sozialdemokrat – in den Bundesrat gewählt, wo er am 1. Februar 1970 das Politische Departement (heute Departement für auswärtige Angelegenheiten) übernahm.
Seine erste grosse Herausforderung war der internationale Terrorismus. Noch im Februar 1970 starben 47 Menschen nach einem Anschlag auf eine Swissair-Maschine, die über Würenlingen (Aargau) abstürzte.
Als nur Monate später, im September gleichen Jahres, eine Gruppe Palästinenser drei Flugzeuge entführte, darunter eine DC-8 der Swissair, zeigte sich Graber verhandlungsbereit. Nach der Befreiung der Geiseln im jordanischen Zerqa liessen die Schweiz, die USA, Grossbritannien und Deutschland im Austausch arabische Gefangene frei.
Dieses Zugeständnis stiess nicht nur auf Verständnis, so dass sich Graber im Parlament teilweise harte Kritik anhören musste.
Annäherung an Europa
In seinem Amt als Aussenminister trug er – zusammen mit dem damaligen Wirtschaftsminister Ernst Brugger – wesentlich zur Annäherung der Schweiz an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bei.
Er wirkte bei den (1972 abgeschlossenen) Verhandlungen über den Freihandels-Vertrag zwischen den Efta-Staaten und Europäischer Wirtschafts-Gemeinschaft (EWG) mit. Ausserdem setzte er sich für den Beitritt der Schweiz zur Europäischen Menschenrechts-Konvention ein, der 1974 erfolgte.
1975, in seinem Amtsjahr als Bundespräsident, unterzeichnete Graber für die Schweiz die Schlussakte von Helsinki. Diese begründete die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, heute OSZE).
Engagement für Entwicklungshilfe
Graber setzte sich auch für die Normalisierung der Beziehungen der Schweiz zu den kommunistischen Ländern sowie zu den arabischen Staaten ein. Zudem reiste er 1973 als erster Schweizer Bundesrat nach Israel.
Ein wichtiges Anliegen war ihm auch der Ausbau der Entwicklungs-Zusammenarbeit. Wichtige Erfolge waren das Entwicklungshilfe-Gesetz von 1975 und der Aufbau der Schweizerischen Katastrophenhilfe.
Gemässigter Sozialdemokrat
Als Sozialdemokrat hatte Graber wesentlichen Anteil an der Reform der Waadtländer SP, die während des Zweiten Weltkrieges tief gespalten war. 1949 bis 1963 präsidierte er die Kantonalpartei, nach 1963 war er auch Vizepräsident der SP Schweiz.
Er vertrat stets einen gemässigten sozialdemokratischen Kurs und gehörte zu den Gegnern des linksextremen Weges von Léon Nicole.
Für die SP Schweiz verkörperte Graber die Schweizer Sozialdemokratie des 20. Jahrhunderts, wie SP-Sprecher Jean-Philippe Jeannnerat ausführte. Graber habe das politische Leben der Schweiz auf allen Ebenen mitgeprägt und sich besondere Verdienste um die SP in der Romandie erworben.
Für alt Bundesrat René Felber zeichnete sich Graber durch grosse Aufrichtigkeit aus. Bei aller Strenge habe Graber nie den Sinn des Lebens aus den Augen verloren.
Glücklicher Mensch
Graber wurde 1981 Ehrenbürger der Stadt Lausanne. Seinen persönlichen Werdegang hat er im Buch «Mémoires et réflexions» beschrieben, das 1992 erschienen ist.
An seinem 90. Geburtstag im Dezember 1998 hatte Pierre Graber sich als «wahnsinnig glücklichen Mensch» bezeichnet. Er könne in einem familiären Umfeld leben, das diesen Glückszustand garantiere.
Die Beisetzungsfeierlichkeiten für den verstorbenen Magistraten finden gemäss Bundeskanzlei am Donnerstag, 24. Juli, 14 Uhr auf dem Friedhof Montoie in Lausanne statt.
swissinfo und Agenturen
Ab 1937 Grossrat
1942-1969 Nationalrat
1945-1949 Stadtpräsident von Lausanne
1962-1970 Waadtländer Regierungsrat
1965-1966 Nationalratspräsident
1970-1978 Bundesrat

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