
Der Flirt mit Europa ist zu Ende

Mit einem Stimmenanteil von rund 77% hat das Schweizer Volk am Sonntag (4.3.) deutlich Nein gesagt zur Initiative "Ja zu Europa". Gleichzeitig fand bei den Grossratswahlen im Kanton Aargau ein aufsehenerregender Rechtsrutsch zu Gunsten der SVP statt. Das Thema EU-Beitritt dürfte damit für längere Zeit vom Tisch sein.
Das wuchtige Nein zur sofortigen Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union, dies bei einer überdurchschnittlichen Stimmbeteiligung von rund 55%, schlägt in der Schweizer Presse erwartungsgemäss hohe Wellen. «L’adieu à l’Europe» titelt die westschweizer Zeitung Le Temps in grossen Lettern auf der Frontseite und spricht unverblümt von einer Ohrfeige für die Beitrittsbefürworter, ja von einer «schrecklichen Niederlage». – Das massive Nein zur Volksinitiative ist in der Tat umso erstaunlicher, als auch sämtliche welschen Kantone mit dem gestrigen Abstimmungstag «helvetisiert» worden sind, wie der Berner Bund festhält. Der Bundesrat, so die Freiburger La Liberté, habe sich mit seiner Haltung selber ins Bein geschossen. Einen Meinungsumschwung werde er in den nächsten 20 Jahren nicht herbeiführen können.
EU-Beitritt aufs Eis gelegt
Dass mit dieser vernichtenden Niederlage das Thema EU-Beitritt wohl für längere Zeit vom Tisch sein wird, bringt niemand so deutlich auf den Punkt wie SVP-Nationalrat Christoph Blocher. Der eingefleischte EU-Gegner macht in einem Interview mit dem Blick klar: «Der Bundesrat muss jetzt einsehen, dass das Schweizer Volk nicht in die EU will, auch die Westschweizer nicht. Den EU-Mitgliedstaaten muss er jetzt reinen Wein einschenken und das Beitrittsgesuch zurückziehen.»
Gegen politische Oeffnung
Dass Blocher seinen Kreuzzug gegen eine politische Oeffnung der Schweiz jetzt erst recht weiterführen wird, unterstreicht er mit der Aussage, dass er den Kampf «nahtlos weiterführen» werde: «Im Juni geht es um den Nato-Beitritt und die UNO widerspricht unserer Neutralität.» Damit macht der SVP-Politiker klar, dass er und seine Anhänger sowohl gegen den bewaffneten Ausland-Einsatz von Schweizer Friedenstruppen (Abstimmung am 10. Juni) wie auch gegen den UNO-Beitritt (Abstimmung 2002) konsequent Opposition machen werden.
SVP-Vormarsch ungebrochen
Blochers kompromisslose Haltung erhält durch das Ergebnis der Grossratswahlen im Kanton Aargau Auftrieb. Die SVP legte im Nachbarkanton Zürichs sensationelle 26 Sitze zu und wurde damit auf einen Schlag zur stärksten Partei im Aargauer Kantonsparlament. Zusammen mit dem zum Juniorpartner gewordenen, wirtschaftsfreundlich politisierenden FDP verfügt sie damit über eine absolute Mehrheit. Von einem «dramatischen Rechtsrutsch» spricht sogar die bürgerliche Aargauer Zeitung.
«Die klarsten Positionen»
Den Grund für den Siegeszug der SVP macht die Aargauer Zeitung wie folgt aus: die SVP «hat das treuste Wählerpublikum, die einfachsten, klarsten Positionen; viele sind zwar wenig zukunftgerichtet, treffen aber das Sicherheitsbedürfnis des halben Volkes». Nicht von ungefähr kommentiert der SVP-Pressedienst das Abstimmungs-Ergebnis vom Sonntag mit den Worten, das Nein sei eine «klare Niederlage» für die «Zickzack-Politik» der anderen Parteien, ja sogar «eine schallende Ohrfeige» für CVP und SP. – Auch im benachbarten Kanton Solothurn vermochte die SVP ihren Anteil im Kantonsrat übrigens um satte 9 Sitze aufzustocken. Kein Grund also für Christoph Blocher, von seinem Anti-Europa-Kurs abzuweichen.
Kein Kurswechsel des Bundesrates
Mit seltener Einmütigkeit stellten sich Aussenminister Deiss, Wirtschaftsminister Couchepin und Bundespräsident Leuenberger nach Bekanntgabe des Abstimmungsresultates den Medien und betonten, dass der Bundesrat sich in seiner Politik bestärkt sehe. Oder, wie Bundesrat Deiss im Tagesanzeiger deutlich machte: «Wir lassen uns von unserem Ziel nicht abbringen». Das Resultat, meinte Deiss, «bestimmt die weitere Integrationspolitik der Schweiz in keiner Weise». Diese Aussage dürfte angesichts der prominenten Rufe nach einem Moratorium, nach einem Marschhalt in dieser Frage, jedoch reiner Zweckoptimismus sein. Denn, so der Tagesanzeiger in seinem Kommentar: «Einflussreiche Kreise dieses Landes, bürgerliche Parteien, grosse Teile der Wirtschaft, sind saturiert, was Europa betrifft.»
«Der Geldtresor Europas»
In der Auslandpresse findet das Abstimmungsergebnis vom Sonntag erwartungsgemäss wenig Resonanz. Der ARD-Tagesschau war das Abstimmungsresultat eine knappe 15-Sekunden-Meldung wert. Anders der Berliner Tagesspiegel. Er kommentiert die zweckoptimistischen Aeusserungen des Bundesrates mit den Worten: «solche rhetorische Ausflüchte sind angesichts der Deutlichkeit des Resultats nicht glaubwürdig». Auch Le Monde spricht unverblümt von einer massiven Niederlage der EU-Befürworter und The New York Times meint dazu: «Die Schweizer Stimmenden haben unüberhörbar signalisiert, dass sie für einen Beitritt zur EU nicht bereit sind». Zurückhaltender kommentiert die Stuttgarter Zeitung: «Den Schweizern ist durchaus bewusst, dass sie nicht mehr lange der Geldtresor Europas sein können. Für fundamentale Entscheidungen lassen sie sich aber gerne Zeit». Die Schweiz wolle lediglich den Binnenmarkt der Europäischen Union (EU) nutzen, sich aber sonst von der Gemeinschaft fern halten. Dies die pointierte Ansichte des liberalen österreichischen Standard.
Anti-EU-Gefühle
Der Londoner Daily Telegraph wiederum kommt zum wohl richtigen Schluss: «Wenn die Anti-EU-Gefühle so verbreitet sind, wie das Abstimmungsresultat vermuten lässt, dann sind die Chancen der Regierung, 2004 mit Beitrittsverhandlungen zu beginnen, um frühestens 2010 der EU beizutreten, gering. Oder, um den Schlusssatz im Kommentar des Berner Bund aufzunehmen: es «ist anzunehmen, dass dieses Jahrzehnt ohne EU-Beitritt der Schweiz verstreicht».
Christoph Heri

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