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Eine gesunde Wirtschaft ist kein Wahlkampfthema

Einzig der starke Franken, welcher der Exportwirtschaft zu schaffen macht, sorgt heute in der Schweizer Wirtschaft für Sorgenfalten. Keystone

Wenige Monate vor den Parlamentswahlen erfreut sich die Schweizer Wirtschaft bester Gesundheit: Mehr Wachstum als der europäische Durchschnitt, sinkende Arbeitslosigkeit, gesunde Staatskassen. Ein zu positiver Rahmen, um damit Wahlkampf zu betreiben.

Nach der Wirtschaftskrise von 2009 hat sich die Schweizer Wirtschaft sehr gut erholt. Sie befindet sich im Vergleich mit anderen europäischen Ländern, die hoch verschuldet gegen den Staatsbankrott ankämpfen, derzeit sogar in einer beneidenswerten Verfassung.

Die wichtigsten Indikatoren sprechen eine klare Sprache: Das Bruttoinlandprodukt (BIP) der Schweiz ist im vergangenen um 2,6% gewachsen, verglichen mit 1,8% im Durchschnitt der Länder der Europäischen Union (EU). Die Staatsverschuldung liegt nicht über 40% des BIP (EU: 80%) und die Arbeitslosenquote ist im Mai auf unter 3% gesunken (EU: 9,5%).

Trotz einigen Wolken am Horizont – namentlich die Stärke des Frankens setzt der Exportwirtschaft gegenwärtig stark zu – ist das Gesamtbild der Schweizer Wirtschaft beruhigend. Es ist sogar derart beruhigend, dass die Wirtschaft in der Schweiz – nicht wie in fast allen anderen Ländern – keine dominierende Rolle in der Wahlkampfdebatte zu spielen scheint.

Unterschiedliche Interpretationen

Das heisst aber nicht, dass sich jetzt plötzlich die politischen Kräfte von rechts, links und aus der Mitte auf eine gemeinsame Wirtschaftspolitik einigen würden. Die grossen Parteien sind sich bereits uneinig, wenn es um Interpretationen für den stabilen Zustand der Schweizer Wirtschaft geht.

So schreiben sich die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen) und die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) – die beiden mehr oder weniger im politischen Zentrum situierten Parteien, die den Lauf der Schweizer Politik der letzten Jahrzehnte mehr als alle anderen bestimmt haben –den Erfolg der Schweizer Wirtschaft zum guten Teil selber zu.

«Wir haben über längere Zeit einen Staat aufbauen können, der ein Bild von Stabilität und Zuverlässigkeit abgibt», sagt Pirmin Bischof, Nationalrat der CVP. «Diese Qualitäten sind sicherlich die wichtigsten Gründe für den dauerhaften Erfolg der Schweizer Wirtschaft, der sich abstützt auf den sozialen Frieden, eine solide Markwirtschaft und attraktive Rahmenbedingungen für ausländische Unternehmen, die in unserem Land investieren wollen.»

Das Echo kommt von FDP-Nationalrat Philipp Müller: «Wir haben auch in diesen letzten Jahren eine auf den Willen zu Mässigung und Gleichgewicht ausgerichtete Politik betrieben. Im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern haben wir nicht überrissene Konjunkturprogramme lanciert und uns nicht überschuldet, um die Schwächen des Finanzsektors zu decken.»

Moderates Konjunkturprogramm

Diese Vision wird von den Parteien rechts und links der Mitte zum Teil relativiert: «Sicher hat die Eidgenossenschaft intelligent eingegriffen und konnte eine unüberlegte Verschuldung verhindern», sagt Hans Kaufmann, Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei (SVP).

«Das Wirtschaftswachstum ist vielmehr dem Anstieg der Einwanderung zu verdanken: Wenn die Anzahl der Ausländer jedes Jahr um 1% steigt, ist es klar, dass das BIP im selben Rahmen zunimmt, doch es handelt sich dabei um ein künstliches Wachstum.»

Hans-Jürg Fehr, Nationalrat der Sozialdemokratischen Partei (SP), ist da ganz anderer Meinung: «Die Schweiz hat in der jüngsten Krise wohl auch von den massiven Konjunkturprogrammen der anderen Länder in Europa profitiert. Wir sind ein Exportland: Viele Schweizer Firmen haben von der konjunkturellen Erholung in diesen Ländern profitiert.»

Während verschiedene europäische Staaten ihrer Wirtschaft mit Dutzenden oder in einigen Fällen gar mit hunderten Milliarden Franken unter die Arme gegriffen haben, hat die Eidgenossenschaft lediglich 3 Milliarden zur Stabilisierung der Konjunktur eingesetzt. Zu viel für die Rechte, zu wenig für die Linke.

«Wir haben völlig unnötige Stabilisierungsprogramme lanciert, nur weil alle Geld vom Staat wollten. Jetzt sieht man die Konsequenzen: Der Immobiliensektor, der am meisten von dieser Hilfe profitiert hat, ist derzeit überhitzt», sagt Hans Kaufmann.

Für Hans-Jürg Fehr hätte der Bund noch mehr tun können. Trotzdem: «Die Programme waren nützlich, besonders für den Tourismussektor und die Reduktion der Jugendarbeitslosigkeit.»

Traditionelle Positionen

Die gute wirtschaftliche Lage stimuliert den Innovationgeist bei den Parteien im Wirtschaftsbereich nicht gerade. Das einzige neue Element ist die Förderung von Cleantech-Technologien, um Arbeitsplätze zu schaffen. Cleantech wird von den Grünen und anderen politischen Lagern unterstützt. Ansonsten bekräftigen die grossen Parteien in ihren Wahlprogrammen lediglich ihre traditionellen Rollen im Wirtschaftsbereich.

Die Sozialdemokraten fordern die Einführung eines Mindestlohnes, einen allumfassenden Service public und eine Stärkung des Werkplatzes, um Arbeitsplätze in der Schweiz zu garantieren. «Die anhaltenden Finanzmarktkrisen haben die Notwendigkeit aufgezeigt, die reale Wirtschaft – Industrie, Handel und Tourismus – gegenüber dem Bankensektor zu stärken, der in der Schweiz ein zu grosses Gewicht erlangt hat», sagt Hans-Jürg Fehr.

Für die SVP, welche die Freizügigkeitsabkommen mit der Europäischen Union neu verhandeln möchte, muss die Schweizer Wirtschaft vor allem unabhängig gegenüber der EU sein. «Wir haben uns einigen Märkten zu sehr genähert, insbesondere jenem der EU. Und jetzt spüren wir sofort jede Krise. In Zukunft muss die Schweiz die Abhängigkeit einschränken , indem sie Freihandelsabkommen mit anderen Ländern, zum Beispiel mit wirtschaftlich aufstrebenden Schwellenländern, abschliesst», betont Hans Kaufman.

Prioritär für die beiden Mitte-Parteien FDP.Die Liberalen und CVP sind die Themen Arbeitsplätze, Kleine und Mittlere Unternehmen (KMU) und günstige Rahmenbedingungen, um Investitionen und ausländische Unternehmen anzuziehen. «Wir wollen weiterhin eine freie und zugleich soziale Marktwirtschaft garantieren. Dieses Gleichgewicht war bisher das Rezept für den Erfolg der Schweiz und soll es auch künftig bleiben gegenüber den Forderungen der zwei extremen Pole, die unsere Stabilität gefährden», sagt Pirmin Bischof.

Wirtschaftliche Prioritäten der grossen Schweizer Parteien:

Schweizerische Volkspartei (SVP): Weniger Steuerabgaben und weniger Staatsausgaben, mehr Markt und weniger Bürokratie, sichere Arbeitsplätze, Schutz des Privateigentums.

Sozialdemokratische Partei (SP): Schaffung von 100’000 neuen Arbeitsplätzen durch Investitionen in erneuerbare Energien, Einführung eines garantierten Mindestlohnes statt Lohndumping, öffentliche Krankenkasse für alle (Einheitskrankenkasse).

Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen): Günstige Rahmenbedingungen für Kleine und Mittlere Betriebe (KMU), Schaffung von Arbeitsplätzen, Zugang zu den internationalen Märkten, weniger Bürokratie.

Christlichdemokratische Volkspartei (CVP): Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Förderung von Cleantech-Projekten, Zugang zu den wichtigsten Märkten, gezielte Steuererleichterungen.

Grüne Partei Schweiz (GPS): Übergang zu grüner Wirtschaft, basierend auf Innovation und erneuerbaren Energien, Schaffung von Arbeitsplätzen im Cleantech-Bereich und ausgeglichenere Ressourcenverteilung.

Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP): Ausgeglichene Finanzpolitik im öffentlichen Sektor, konkurrenzfähiger Werkplatz, nachhaltiger und verantwortungsvoller Unternehmensgeist.

Bruttoinlandprodukt (BIP) der Schweiz:

2007: + 3,6%

2008: + 1,9%

2009: – 1,9%

2010: + 2,6%

2011: + 2,1% (Prognose Seco)

2007: 3,3%

2008: 2,8%

2009: 3,3%

2010: 4,5%

2011: 2,9% (Ende Mai)

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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