Ernst Götsch – ein Schweizer pflügt Monokultur auf bio um
Ein ausgewanderter Agronome lehrt die Welt, wie Landwirtschaft künftig gehen könnte. Ernst Götsch nennt seine Methode Syntropie. Sie verbreitet sich in Brasilien rasant. Götschs Jünger machen ihn zur Ikone.
Stellen Sie sich vor: Der Mensch ist Teil eines grossen Organismus, viel grösser als er selbst. Seine Aufgabe ist, dieses Gebilde optimal funktionieren zu lassen. Der Mensch teilt sich alles mit den anderen Wesen in diesem Organismus, alle arbeiten zusammen und sind füreinander da – zugunsten des Ganzen.
Wie klingt das für Sie? Utopisch? Lesen Sie weiter.
Stellen Sie sich vor: Die Umwelt ist ein kooperatives und interaktives Gebilde. In diesem Gebilde nimmt jedes einzelne Wesen seine Rolle ein und trägt so dazu bei, dass sich dieses Lebens-System ständig selbst erneuert. Und dass für alle reichhaltig Nahrung und Lebensraum bleibt.
Nehmen Sie also Abschied von einer Mentalität, die auf Ausbeutung und Wettbewerb ausgerichtet ist. Vergessen Sie die traditionellen Modelle von Anbau, Produktion und Landnutzung.
Landwirtschaft als natürlicher Bestandteil eines sich ständig regenerierenden Ökosystems – das ist syntropische Landwirtschaft.
Ihr Vater heisst Ernst Götsch. Der Schweizer Agronom, Jahrgang 1948, pflügt in Brasilien gerade die Landwirtschaft auf bio um.
Syntropie bedeutet im griechischen «Das Miteinandergehen». Die syntropische Landwirtschaft fördert das Zusammenspiel verschiedener Pflanzen und Organismen, die sich gegenseitig schützen und Nährstoffe zur Verfügung stellen.
Das wird erreicht, indem man den Pflanzen die Bedingungen gibt, die ihrer Natur und dem Ökosystem am besten entsprechen.
Bäume und Gräser liefern organisches Material, das den Boden mit Humus anreichert und verbessert und ihn gleichzeitig vor Austrocknung schützt. Die syntropische Landwirtschaft verzichtet auf extern zugefügten Dünger und Pestizide. Sie ist somit rein biologisch.
Götsch wanderte 1982 nach Südamerika aus. Der Sohn eines Landwirts aus dem Kanton Thurgau arbeitete zunächst als Forscher am Institut für Pflanzenbau der ETH in Zürich.
Dann übernahm er in Bahia, im Nordosten des Landes, eine aufgegebene Kakaofarm. Deren Böden galten als hoffnungslos degradiert, verbrannte Erde, wertlos.
Götsch aber brachte «Olhos D’Agua» wieder zum Blühen.
Er gewann damit eine Wette und die 120-Hektar-Farm wurde sein Eigen.
Er gewann auch Respekt und Aufmerksamkeit. Denn nach nur fünf Jahren herrschte auf «Olhos D’Agua» wieder eine Artenvielfalt, die dem unberührten Regenwald vergleichbar war. Die Kakao-Produktivität war so ergiebig wie bei den Farmen ringsherum.
Syntropie findet viele Anhänger
In Brasilien gilt Götsch längst als Revolutionär, inzwischen ist er auch beinahe ein Guru. Er verwandelt unbrauchbare Böden wieder in fruchtbares Land.
Er macht Steppen zu Wäldern, die Nebel produzieren, darum fällt auch wieder Regen. Er verwandelt kranke, empfindliche Kulturen in widerstandsfähige Plantagen, die auch dem extremen Wetter trotzen.
Heute verbreiten die Anhänger der «Syntropie» die Samen seiner Ideen. Es sind junge Leute – und es sind einige. In Kursen, in sozialen Netzwerken, auch in Reality-TV-Formaten wird Götschs Konzept der syntropischen Landwirtschaft unter die Leute getragen.
Lösung für globales Problem
Sicher erregt das Ganze auch darum so viel Aufmerksamkeit, weil das Problem, das der Schweizer offenbar lösen kann, global ist und immer drängender wird: Klima, Bodenerosion, Artensterben und Abholzung, das alles kommt in Brasilien zusammen als ein Cluster grosser Probleme, der wenig Hoffnung lässt. Da ist eine Lösung, die jeden Bestandteil mitdenkt, willkommen.
«Jedes Wesen in seiner Nische, jedes seine Funktion erfüllend, mit inter- und intraspezifischen Beziehungen, die auf Kooperation beruhen», so beschreibt Götsch sein System.
Pilze, Bakterien, Pflanzen, Tiere: Sie helfen einander, brauchen sich, profitieren voneinander. Und der Mensch schaut assistierend zu.
Mischkultur statt Monokultur
Unzählige Landwirte haben sich in den letzten Jahren der syntropischen Landwirtschaft zugewandt und Abschied genommen von Monokulturen, bei denen ab einer gewissen Intensität immer mehr Dünger nötig wird, dazu immer mehr Herbizide, Fungizide und Pestizide, bis der Boden oder der Bewuchs und am Ende beides schlapp macht und gar nichts mehr geht.
Seit einiger Zeit interessieren sich auch brasilianische Grossbauern für Götschs Anbaumethoden, aus wirtschaftlichen Überlegungen. Sind ihre Böden erstmal ausgezehrt, kommen Schädlinge, Unkraut und Missernten: gigantische Verluste.
Die Fragen die sich Götsch jetzt stellen: Wie kann man so grosse Mischkulturen maschinell bearbeiten und welche Maschinen sind dafür nötig? Das ist, was ihn mit 75 Jahren noch antreibt.
Es gibt eine Doktorarbeit, die den Impact des Schweizers untersucht hat. In 25 Jahren, von 1993 bis 2018, habe Götsch mit seinen Kursen, Workshops und Konferenzen über 4000 Landwirt:innen, etwa 3500 Familien und fast 2000 Menschen zur Umstellung bewogen, nicht nur in Brasilien, sondern auch in Portugal, Spanien, Hawaii und Surinam, steht darin.
Die Zahlen sind veraltet. Götsch selbst spricht inzwischen von weit über 10’000 Landwirt:innen.
Journalistin Dayana Andrade, verfolgt die Arbeit des Auslandschweizers seit 2007. Ebenso lange verbreitet sie seine Lehre, auch in Europa. Zunächst zog sie mit ihrem Mann von Brasilien nach Portugal.
«Heute leben wir in Italien, in der Region Salento, wo wir 9 Hektar mit verschiedenen Designs von syntropischen Systemen bepflanzen», sagt sie. Darüber berichtet sie regelmässig auf InstagramExterner Link.
Helden aus der Doku-Soap
Dayana und ihr Mann Felipe brachten das Gedankengut auch mit TV-Formaten unter die Leute. Mit den TV-Soaps «Velho Chico» (2016) und «Pantanal» (2022) fesselten sie das brasilianische Publikum. Aktuell arbeiten sie beratend an einem neuen Format namens «Renascer» mit, das 2024 starten soll.
«Wir nutzen jede Gelegenheit, um die Trends in Sachen Umwelt und Nachhaltigkeit möglichst vielen nahezubringen», sagt Dayana. «Ernst Götsch ist dabei natürlich unsere grosse Referenz.»
Götschs Gedankengut findet dank ihr auf Globo in Brasilien Verbreitung, dem führenden Anbieter von Reality-Formaten. Die Zuschauerschaft des Senders: 183 Millionen Menschen.
Ein weiterer Anhänger Götschs ist Antonio Gomides. Er gibt die Lehre in seinen sozialen Netzwerken weiter, etwa auf InstagramExterner Link und YoutubeExterner Link, wo er zusammen fast 200’000 Follower zählt.
Gomides stammt aus einer Wandertheaterfamilie und reist seit vielen Jahren durch Brasilien. Er hat sich dem Thema inzwischen verschrieben und bietet Kurse für Agroforst-Interessierte an.
«Ich sah ein geniales Werk»
«Ich hörte zum ersten Mal von Ernst in Brasilia, wo seine Arbeit sehr präsent ist», erzählt Gomides. «Ich lebte einen Monat lang mit ihm.» Die Begegnung mit dem Schweizer Auswanderer stellte einen tiefen Einschnitt in seinem Leben dar, erzählt er. Er habe realisiert, wie Götsch durch seinen neuen Umgang mit dem Land tatsächlich auch die Umwelt verändere.
«Ich sah, dass ich vor einem genialen Werk stand, es war ein Gefühl wie damals, als ich im Louvre war und diese Kunstwerke sah», schwärmt Gomides. Götschs Arbeit sieht er als «grosses Vermächtnis für die Menschheit», das in ganz Brasilien und der Welt bekannt gemacht werden müsse.
Götsch, «Landwirt und Philosoph»
Was hält Götsch von alledem? «Genau dafür arbeite ich», sagt er auf Anfrage von swissinfo.ch. «Jeder spielt seine Rolle, und ich tue, was ich in meinem Beruf als Landwirt tun kann, aber eigentlich arbeite ich auch an der Philosophie», sagt er.
«Wenn man mich fragt, was ich bin, dann sage ich: Ich bin Landwirt und zugleich Philosoph.» Er ist überzeugt, dass der Blick aufs Ökosystem von Pflanzen und Tieren den Menschen lehrt.
Das Prinzip der syntropischen Landwirtschaft ahmt die natürlichen Prozesse der Pflanzenentwicklung und der Bodenregeneration nach und beschleunigt diese.
Konkret setzt Götsch auf Mischkulturen, in denen Pflanzen sich gegenseitig stärken und unterstützen. Auch Mulch spielt eine grosse Rolle, organische Masse, die auf dem Boden verrottet und diesem durch Flächenkompostierung neue Nährstoffe zuführt.
Schädlinge macht er zu Helfern
Götsch lässt zudem Unkraut stehen, weil das ganze System von dessen Kraft profitieren kann. Schädlinge nutzt er als Hinweisgeber auf ein Ungleichgewicht im System. So erreicht er letztlich diese hohe Biodiversität, die sich selbst reguliert.
Ernst Götsch aber denkt weiter, Zunehmend beschäftigt er sich auch mit der Art und Weise, wie Menschen mit sich selbst und in sozialen Beziehungen miteinander umgehen. «Wir müssen nicht den Planeten retten», sagt er.
«Aber wir sollten darüber nachdenken, wie wir uns selbst retten können.»
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