«Passen sich Schweizervereine nicht der neuen Realität an, verschwinden sie»

Françoise Millet-Leroux, die scheidende Präsidentin der "Union des associations suisses de France", hat sich während zehn Jahren dafür eingesetzt, die Sichtbarkeit und den Zusammenhalt der grössten Schweizer Gemeinschaft im Ausland zu stärken. Das war nicht immer einfach.
Françoise Millet-Leroux ist eine Frau der klaren Worte. Am 65. Kongress der «Union des associations suisses de France»Externer Link (UASF) zog die Frau, die vor 60 Jahren durch Heirat Schweizerin wurde, ohne Umschweife Bilanz über ihre zehn Jahre an der Spitze der weltweit grössten Vereinigung von Schweizer Vereinen.
Der Kongress fand Ende April im kleinen Kurort Amélie-les-Bains in den östlichen Pyrenäen statt. Wir haben vor Ort mit der scheidenden Präsidentin gesprochen.
swissinfo.ch: Sie treten nach zehn Jahren als Präsidentin der UASF zurück. Warum haben Sie sich entschieden, dieses Amt jetzt abzugeben?
Françoise Millet-Leroux: Mein Engagement für die UASF geht noch weiter zurück: Ich war viermal Delegierte des Auslandschweizer-Rats, also 16 Jahre lang. Präsidentin wurde ich 2015 eher zufällig.
Heute gebe ich das Präsidium der UASF ab, denn man muss wissen, wann man aufhören muss. Ich bin 78 Jahre alt und denke, dass es an der Zeit ist, Platz zu machen für andere, jüngere Leute, die der heutigen Mentalität mehr entsprechen.
Ich bin zum Beispiel keine Freundin der sozialen Netzwerke, auch wenn ich sie zu nutzen weiss. Ich gehöre zur Generation «Papier».
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Welche Bilanz ziehen Sie aus Ihrer Amtszeit?
Ich bedaure, dass es mir nicht gelungen ist, alle Schweizer Vereine unter dem Banner der UASF zu vereinen. Von 68 Vereinen in Frankreich sind 52 Mitglieder der UASF.
Es bleibt noch viel zu tun, um allen Schweizerinnen und Schweizern in Frankreich die Bedeutung und den Nutzen der UASF näher zu bringen.
Andererseits bin ich sehr stolz darauf, dass es mir gelungen ist, die sehr starken Spannungen, die zwischen 2013 und 2015 innerhalb der UASF herrschten, abzubauen und die Sichtbarkeit unserer Vereinigung zu verstärken. Heute ist die UASF als offizielle und unbestrittene Vertreterin der Schweizerinnen und Schweizer in Frankreich anerkannt.
Mein grösster Erfolg ist jedoch die Schaffung eines Stipendiums in Höhe von 5000 Euro für eine Schweizer Studentin oder einen Schweizer Studenten aus Frankreich, die oder der Mitglied der UASF ist und in der Schweiz studieren möchte.
Dieses Stipendium wird dieses Jahr zum ersten Mal vergeben. Die Finanzierung über vier Jahre konnten wir zum grossen Teil durch die Tombolas sicherstellen, die seit 2022 bei jedem UASF-Kongress organisiert werden.
Ich kann jedoch nicht versprechen, dass das Stipendium verlängert wird, da dieser Entscheid nun von der neuen UASF-Führung getroffen wird.
Sie waren Präsidentin während der Covid-Jahre 2020 und 2021. Wie hat die UASF diese Krise gemeistert?
Es war eine schwierige Zeit. Die Wahlen 2021 mussten per Briefwahl durchgeführt werden, die Auszählung wurde von der Botschaft organisiert.
Der Vorstand der UASF hat die Vereine gebeten, ihre Beiträge weiter zu zahlen, auch wenn die Aktivitäten eingestellt wurden, als Zeichen der Unterstützung für die Prinzipien und Ideen, welche diese Freundschaftskreise vertreten und verteidigen.
Im Wort «Freundschaftskreis» steckt das Wort «Freund», und einen Freund lässt man nicht im Stich, wenn er geschwächt ist. Im Gegenteil, man unterstützt ihn.
Leider haben die Vereine während der Pandemie viele Mitglieder verloren. Ausserdem trat eine Art Lethargie ein, und die Menschen traten nach der Pandemie nicht unbedingt wieder in die Vereine ein.
Einige Vereine gerieten in finanzielle Schwierigkeiten. Und manchmal wurde der UASF vorgeworfen, keine finanzielle Unterstützung geleistet zu haben. Die Organisation hatte schlicht nicht die Mittel dazu.
Einer der positiven Aspekte ist, dass wir die virtuellen Sitzungen entdeckt und akzeptiert haben, was unseren Austausch seitdem sehr erleichtert hat.
Mit über 212’000 Schweizerinnen und Schweizern hat Frankreich die grösste Schweizer Gemeinschaft der Welt. Trotzdem ist diese in den sozialen Netzwerken kaum sichtbar. Woran liegt das?
Ich würde sagen, es fehlt an Zeit. Wir arbeiten alle ehrenamtlich. Einige von uns sind immer noch aktiv. Da ist es nicht einfach, eine echte Präsenz in den sozialen Netzwerken zu pflegen, was einen grossen Zeitaufwand bedingt.
Hinzu kommt, dass die meisten Schweizerinnen und Schweizer in Frankreich binational sind. Sie hängen an ihrem lokalen Verein und sind nicht unbedingt daran interessiert, sich in eine grössere Struktur zu integrieren, die noch dazu elektronisch und virtuell ist.
Müssen Vereine, die sich nicht erneuern können, um jeden Preis gerettet werden?
Um zu überleben, müssen sie sich weiterentwickeln. Wenn sie sich nicht an die neuen Gegebenheiten anpassen, werden sie verschwinden. In Bordeaux zum Beispiel hat eine generationenübergreifende Dynamik dazu beigetragen, dass die Clubs weiterhin aktiv sind.
Glücklicherweise gelingt dies auch anderen Vereinen. Aber Vereine, die nur aus älteren Mitgliedern bestehen und in denen keine Erneuerung absehbar oder möglich ist, sind in Gefahr.
Wenn die Zukunft der Diaspora nicht mehr in den Vereinen liegt, wo dann?
Die Vereine sollten sich mit breiteren Themen auseinandersetzen, Brücken zum politischen Leben in der Schweiz schlagen, die Teilnahme an den Webinaren der Auslandschweizer-Organisation (ASO) fördern, Vortragsreihen organisieren… Die Möglichkeiten sind vielfältig.
Meiner Meinung nach besteht eine echte Diskrepanz zwischen den Zielen der ASO und der Realität der Mitglieder in den Vereinen. Viele interessieren sich nicht oder nicht mehr wirklich für das politische Leben in der Schweiz. Sie pflegen zwar eine emotionale Beziehung zur Schweiz, aber aus der Ferne.
Selbst wenn die elektronische Stimmabgabe flächendeckend eingeführt würde, bin ich mir nicht sicher, ob dies zu einer signifikanten Erhöhung der Stimm- und Wahlbeteiligung führen würde. Das Desinteresse hat oft tiefere Gründe als nur technische Aspekte.
Wie werden Sie Ihre Zeit verbringen, wenn Sie von Ihren Aufgaben bei der UASF entbunden sind?
Ich muss Fotos aus 20 Jahren sortieren! Im Ernst, ich möchte mich ein wenig auf mich selbst konzentrieren: Freunde treffen, mich um meine Enkelkinder kümmern, Golf spielen, reisen…
Als Mitglied von «Le Souvenir napoléonien» träume ich seit meiner Kindheit davon, nach St. Helena zu reisen. Ich hoffe, dass ich zu meinem 80. Geburtstag im Jahr 2026 endlich dorthin reisen kann.
Ein letztes Wort an die Mitglieder der UASF?
Gemeinsam sind wir stark. Ich rufe alle Schweizerinnen und Schweizer in Frankreich auf, die Arbeit der UASF zu unterstützen und ihr Vertrauen zu schenken.
Ich beende mein Mandat ruhig, ohne Bedauern oder Trauer, glücklich und dankbar, dass ich diese menschlich sehr bereichernde Erfahrung machen und teilen durfte.
Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

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