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Überraschung beim Grossen Schiller-Preis 2000

Grytzko Mascioni erhält den Grossen Schillerpreis 2000. Keystone / Delay

Der Puschlaver Grytzko Mascioni erhält den mit 30'000 Franken dotierten Preis. Er hat rund 50 Bücher veröffentlicht und drei Dutzend - meist italienische - Literaturpreise erhalten. In der Deutschschweiz ist er jedoch unbekannt.

Umfang und Vielfalt von Grytzko Mascionis Oeuvre erwecken Staunen und Respekt. Ausserdem hat er – ungewöhnlich für einen Schweizer – mehrere Jahre lang das italienische Kulturinstitut in Zagreb geleitet. Dennoch ist sein Name nicht über die Grenzen des italienischen Sprachgebiets hinaus gedrungen und seine Werke sind bis heute kaum übersetzt worden.

Dass ausgerechnet ihm der renommierteste Schweizer Literaturpreis zuteil wird, hat deshalb für Überraschung, vereinzelt auch für Unmut gesorgt.

Wer ist Mascioni?

Mascioni gehört zur kleinsten Schweizer Sprach-Minderheit, der der italienischsprachigen Bündner. Sein Werk aber öffnet diese enge Perspektive und zeigt einen Weltbürger aus dem Geist der Antike, den die tieferen Fragen der menschlichen Existenz an sich besonders interessieren.

Allein die Titelgestalten seiner Bücher verraten die Vorliebe: Apollo, Sappho, Sokrates. Hinzu kommt das Mediterrane, das Mascioni schon früh anzog – ohne dass es ihn freilich seiner alpenländischen Herkunft entfremdet hätte. Das Mittelmeer ist ihm Metapher für die Quelle der europäischen Identität aus dem Geist von Respekt und Kosmopolitismus, ein Symbol für Gemeinsamkeit wie Differenz.

Anbetung des Wortes

Die Mythen und Ideale der hellenischen Welt werden im Werk Mascionis immer wieder beschworen. Daraus zu schliessen, er entziehe sich der Aktualität, wäre aber falsch. Als auf dem Balkan der Krieg ausbrach, hat er sich wiederholt zu Wort gemeldet.

Mascioni ist ein grosser Stilist, der Essayistik, Erzählung und Poesie miteinander verbindet. Seine Virtuosität hat ihm ausserhalb der Schweiz grosse Resonanz eingetragen. Allerdings steckt in dieser Sprach-Verliebtheit auch die Gefahr des l’art pour l’art.

Letzteres wird ihm innerhalb des Tessiner Literaturbetriebs gelegentlich vorgeworfen. Insbesondere aus Kreisen der “Gruppe Olten” erwächst ihm Kritik. Sein Werk wird da mitunter als (selbst-)gefällig und oberflächlich eingestuft.

Mutige Ehrung

Mit zu diesem Ruf mag auch beitragen, dass Mascioni bisher überwiegend in Italien (bei renommierten Verlagen) publiziert hat. Er gehört also nicht zur “Familie”. Zudem steht er als Vertreter der italienischsprachigen Bündner in Konkurrenz zum Tessin. Seine langjährige Tätigkeit im Tessiner Medienbetrieb hat ihm zu Prestige und Einfluss verholfen. Dieses Image, heisst es, wisse er ausgezeichnet zu pflegen.
Angesichts all dessen darf die Ehrung von Grytzko Mascioni mit dem Grossen Schillerpreis als ebenso überraschende wie mutige Entscheidung bewertet werden. Das Erstaunen, das sie weit herum hervorgerufen hat, kann auch Anstoss für eine Entdeckung sein.

Damit die Unkenntnis seines Werks über die Sprachgrenze hinaus allerdings überwunden wird, muss sein Werk erst noch übersetzt werden.

Der Grosse Schillerpreis

Der Grosse Schillerpreis gilt als die renommierteste literarische Auszeichnung in der Schweiz. Die Schweizerische Schillerstiftung vergibt ihn nebst jährlichen Werkpreisen alle vier bis sechs Jahre für ein literarisches Gesamtwerk.

Die Auszeichnung ist mit 30’000 Franken dotiert. Mit ihr soll das literarische Schaffen aller vier Landessprachen gefördert und “im Bewusstsein des lesenden Publikums verankert” werden.

1920 ist der Preis erstmals an den Nobelpreisträger Carl Spitteler verliehen worden. Bis heute haben die Auszeichnung insgesamt 16 (durchwegs männliche) Literaturschaffende aus allen vier Literaturen der Schweiz erhalten, unter ihnen Charles-Ferdinand Ramuz, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch oder Giorgio Oelli. Vor Grytzko Mascioni ist 1997 der Walliser Maurice Chappazmit dem Grossen Schillerpreis geehrt worden.

swissinfo und Agenturen

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