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Seit 1968 ist Kreativität im Büro Pflicht

Zwei Büro Angestellte am Boden sitzend, eine Dame schreibt an die Wand
Chris Ware/Keystone Features/Getty Images

Eine der Parolen von 1968 war "Die Phantasie an die Macht!". Nachhaltige Wirkung hat der Slogan scheinbar in der Wirtschaft gezeigt. "Kreativität" wurde seither zum Muss – in allen Branchen, auch jenseits von Grafik-Ateliers.

Die Schweiz erlebte in der Nachkriegszeit einen nie wieder erlebten Wirtschaftsboom –  und fürchtete sich vor einem nationalen Burn-Out. Mitte der 1960er-Jahre verzeichnete man übermässig viele Herzinfarkte in den Chefetagen und die Angestellten wurden aufmüpfig. Vorgesetzte klagten, dass Mitarbeiter bei kleinsten Zurechtweisungen aufbrausten – und kündigten: Weil sie das angesichts des konjunkturbedingten Arbeitskräftemangels konnten.

Cartoon
Wütender Angestellter: “Ja, also einen besseren als mich werden Sie so schnell nicht finden – und ich bin nicht auf Sie angewiesen, klar?” Illustration von Joss aus Nebelspalter. Nebelspalter

1968 widmete sich ein ganzer Kongress, der nahe Zürichs stattfand, dem “Unternehmer im Spannungsfeld der Autoritätskrise”: Das Hauptproblem, klagten die anwesenden Manager, lag darin, dass es gerade die Kreativsten seien, die gingen. Unternehmen müssten deswegen ihre Autoritätsstrukturen neu überdenken.

Lockerungsübungen

Ein Effekt dieser Krise war, dass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen weniger als Befehlsempfänger und ausführende Untergebene gesehen werden konnten, sondern als aktive, denkende und kreative Wesen. Gewisse Unternehmen schrieben sich ab den 1970er-Jahren Wörter wie “Selbstverwirklichung” auf die Fahnen, denn Arbeit sollte – und das war neu – nun den “ganzen” Menschen erfüllen. 

Andere liessen ihre Arbeitnehmer am Morgen immerhin erstmal turnen, um überschüssige Energie abzulassen. Andere schickten ihre Angestellten in Kreativitätsworkshops, in denen sie in Übungen darüber nachdachten, weshalb Bierflaschen voller Löcher sein sollten und warum auch Geld ein Verfallsdatum haben soll. Ein berühmter amerikanischer Kreativguru bewarb seine Methode damals damit, dass er versprach, man lerne bei ihm zu denken “like a genius, like a child, like a freak, an artist”. 

Doch diese kreativen Lockerungsübungen waren kein kurzfristiger Effekt von “1968”. Denn bereits in den 1950er-Jahren zeigte sich Unbehagen an der Monotonie des Büroalltags. So hielt der Werber Adolf Wirz bereits ab 1959 an vielen Orten in der Schweiz Vorträge über die Notwendigkeit des kreativen Denkens. Er klagte darüber, dass die aktuellen Unternehmen Menschen zu Robotern machten – ohne Ideen und Mut.  

Ein Robotermensch
Illustration aus Adolf Wirz: Kleine Schule des schöpferischen Denkens. Zürich 1963. Adolf Wirz

Doch wer konform denke, könne nicht kreativ sein – und wer nicht kreativ sei, werde auch nie wirtschaftlich erfolgreich sein. Deswegen forderte Wirz, dass man kreative Mitarbeiter auch nicht allzu streng beurteile – wer Phantasie zeige, dürfe auch mal zu spät kommen oder sich extravagant kleiden.

Brainstormings als Büroaufstand

Wirz importierte auch eine Technik, die heute jedes Kind kennt: Das Brainstorming. Er empfahl diese damals neue Arbeitstechnik, weil sie die Starrheit der Hierarchien auflöste: Ideen konnten hier frei fliessen, hier war niemand der Chef – Wirz empfahl sogar, Vorgesetzte explizit aus den Besprechungszimmer auszusperren: “Nur so kann ein Brainstorming spontan, eruptiv, kühn, ja umstürzlerisch verlaufen.”  Dieser Mini-Aufstand im Büro zog immer weitere Kreise, wurde in der Architektur aufgenommen und übertrat bald die Grenzen der Kreativwirtschaft. So setzte zum Beispiel der Hotelierverband an Tagungen Mitte der 1960er-Jahren auf “Gehirnaufrüttelungen”. Ein bisschen Revolte – das erschien als produktiv.

1968 und die Manager: Das Vokabular der Revolte

Vor diesem Hintergrund empfanden auch wirtschaftliche Kreise eine gewisse Sympathie für die Veränderungen der Verhältnisse. So freute sich zum Beispiel der Generaldirektor von Knorr, Heinrich Oswald, darüber, als 1968 “Erstarrtes – krachend und splitternd – in neue Bewegung” geriet. Der Manager forderte eine Abkehr von streng hierarchischen Organisationsformen, die sich die Wirtschaft bei der Kirche und beim Militär abgeschaut hatte: Bürogemeinschaften sollten wie ein Orchester funktionieren, in dem jeder und jede einen wesentlichen kreativen Beitrag leistete. 

Karikatur
Karikatur aus den 1970er-Jahren. Paul Brassel/Schweizerisches Sozialarchiv

Diese Forderungen nach dynamischerem Führen passten zum liberaleren Lifestyle der 1960er-Jahre und kamen einem wachsenden Bedürfnis nach Selbstverwirklichung entgegen.

Doch mit den politischen Forderungen von 1968 traf sich diese Management-Reform vor allem im Vokabular. Um 1968 entstanden etliche Gruppen von Angestellten, die sich zwar tatsächlich zu Robotern gemacht fühlten, die aber nicht Kreativitäts-Workshops, sondern demokratische Mitbestimmung im Betrieb forderten. Die Schweizer Gewerkschaften nahmen diese Forderungen auf und lancierten 1971 die “Mitbestimmungsinitiative”.

Die Initiative wurde tatsächlich von einzelnen Management-Experten als sinnvoll erachtet – von Unternehmerkreisen wurde sie aber vehement abgelehnt. Der Schweizer Arbeitgeberverband begrüsste zwar die Forderung nach “geistig-seelischer Befriedigung bei der Arbeit”. Doch alles darüber hinaus greife das Privateigentum an. Die Initiative wurde 1976 abgelehnt – die Hochkonjunktur war von einer niederschmetternden Wirtschaftskrise abgelöst worden und das Gefühl des Aufbruchs verschwunden.

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