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Die Schweiz wehrt sich gegen Lockerung des Patentschutzes

EIn Protest gegen den Patentschutz
Bei der Bekämpfung der Covid-Pandemie soll es keine Unterscheidungen geben: Eine Demonstration am Rande der Sitzung des Rates für handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) am Sitz der Welthandelsorganisation aufgenommen (30. November 2021). Keystone / Salvatore Di Nolfi

Der Zugang zu wissenschaftlichen Errungenschaften ist ein Menschenrecht. Doch wie lässt es sich umsetzen? Die Covid-19-Pandemie hat die Debatte neu entfacht, denn weltweit haben Millionen von Menschen weiterhin keinen Zugang zu Impfstoffen und anderen Behandlungen. Reiche Länder, darunter die Schweiz, wollen ihre Privilegien beim Zugang zu wissenschaftlichen Entdeckungen aber nicht aufgeben.

Im Jahr 1948 wurde “die Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften” als Teil der sozialen und kulturellen Rechte im Artikel 27Externer Link der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert. Die Aufnahme dieses Artikels war eine Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg, als die Wissenschaft für politische, wirtschaftliche und kriegerische Zwecke instrumentalisiert worden war. Ebenso wie das Recht auf freie Meinungsäusserung oder ein ordentliches Gerichtsverfahren müssen Staaten auch das Menschenrecht auf Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt garantieren.

Dieses ist jedoch weit von seiner allgemeinen Umsetzung entfernt: Millionen von Menschen auf der ganzen Welt haben keinen Zugang zu wirksamen und sicheren Impfstoffen und Medikamenten. Das hat die Coronavirus-Pandemie in aller Deutlichkeit gezeigt. Obwohl Impfstoffe dank öffentlicher Investitionen und der Weitergabe wissenschaftlicher Erkenntnisse in Rekordzeit auf den Markt gekommen sind, bleibt ein Grossteil der Menschheit davon ausgeschlossen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die öffentlich-private Impfallianz GaviExterner Link haben die Covid-19-Impfstoffe zu einem öffentlichen Gut erklärt. Doch sie haben es versäumt, diese Stoffe über das eigens ins Leben gerufene Covax-Programm weltweit gleichmässig zu verteilen. Das Ergebnis: Nur 15% der Menschen in Niedrigeinkommensländern haben mindestens eine Dosis an Covid-19-Impfstoff erhalten. In Hocheinkommensländern liegt der Anteil bei 72%.

Dieser ungleiche Zugang zum wissenschaftlichen Fortschritt stellt nicht nur eine Ungerechtigkeit dar, sondern auch ein ernsthaftes Problem für die öffentliche Gesundheit. “Die Wissenschaft als Menschenrecht ist sowohl ein individuelles als auch ein gemeinschaftliches öffentliches Gut – sie sollte daher allen Menschen zugutekommen”, sagt Andrea Boggio, Professor für Rechtswissenschaften an der Bryant University in den USA. Er äusserte sich zu dieser Frage im Oktober an einer Konferenz des Geneva Science and Diplomacy Anticipator (GESDA) in Genf.

Doch bisher ist das nicht der Fall. Mehr als zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie ist klargeworden, dass die Regierungen reicher Länder – darunter die Schweiz – nicht die Absicht haben, die eigenen Privilegien auf medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse aufzugeben, die Millionen von Menschenleben retten und die öffentliche Gesundheit weltweit schützen könnten.

Impfstoffe im Abfallkübel

Die Schweiz spielte anfänglich eine wichtige Rolle bei der Förderung eines fairen Zugangs zu Covid-19-Impfstoffen. Zum einen haben die WHO und Gavi ihren Sitz in Genf. Zum anderen unterzeichnete das Basler Chemieunternehmen Lonza Im Mai 2020 einen Zehnjahresvertrag mit Moderna zur Herstellung und zum Vertrieb seines mRNA-Impfstoffs ausserhalb der USA.

Auf nationaler Ebene hatte die Impfkampagne jedoch nicht den erwarteten Erfolg: Die Akzeptanz in der Bevölkerung wuchs aufgrund der Skepsis gegenüber Impfstoffen und eines gewissen Misstrauens gegenüber den behördlichen Massnahmen nur langsam. Dies hat zur Folge, dass die Schweiz eine der niedrigsten Impfquoten gegen Covid-19 in Westeuropa aufweist.

Vor allem aber war die Schweiz nicht in der Lage, ihre Anstrengungen zu koordinieren, um nicht verwendete Impfdosen an bedürftige Länder zu spenden: Der Bundesrat kündigte Ende Oktober an, bis Februar 2023 bis zu 14 Millionen abgelaufene Impfstoffe zu entsorgenExterner Link. Boggio bezeichnet diese Situation als “beschämend”.

Geistiges Eigentum bedroht die öffentliche Gesundheit

Als Hemmschuh erweisen sich die Patente auf wissenschaftliche Entdeckungen. Diese Rechte auf geistiges Eigentum hindern ärmere Länder nach wie vor daran, die benötigten Impfstoffe und anderen Behandlungen zu niedrigeren Preisen selbst herzustellen.

“Die Art und Weise, wie wir während der Covid-19-Pandemie mit geistigem Eigentum umgegangen sind, ist völlig falsch”, sagt Gabriela Ramos, stellvertretende Generaldirektorin für Geistes- und Sozialwissenschaften bei der UNESCO. Die Vorschriften zum Schutz des geistigen Eigentums ermöglichten es Unternehmen wie Pfizer/Biontech und Moderna, die Kontrolle über die Produktion und den Vertrieb von Impfstoffen zu behalten.

Dabei haben beide Unternehmen erhebliche öffentliche MitteExterner Linkl für die Entwicklung ihrer Technologien erhalten – mehr als 430 Millionen Dollar aus Deutschland und 110 Millionen Dollar von der EU für Biontech und etwa 2,5 Milliarden Dollar aus den USA für Moderna.

“Aus Steuergeldern finanzierte Investitionen werden privatisiert und bringen diesen Unternehmen Milliarden von Dollar ein. Und genau diese Unternehmen verhindern dann unter Berufung auf geistige Eigentumsrechte die gerechte Verteilung von Impfstoffen – das ist ungerecht”, argumentiert Gabriela Ramos.

Gefährdete Privatinvestitionen

Pfizer/Biontech und Moderna verteidigen sich. Sie weisen darauf hin, dass die Entwicklung ihrer Impfstoffe auch dank privater Investoren möglich war, die dafür Risiken eingegangen seien. Ein Verzicht auf die Patente gefährde in Zukunft solche Investitionen.

Beide Unternehmen meldeten für das Jahr 2021 einen Umsatz in Milliardenhöhe: 19,5 Milliarden Dollar waren es bei Biontech (gegenüber 495 Millionen Dollar im Jahr 2020) und 18,5 Milliarden Dollar bei Moderna (gegenüber 803 Millionen Dollar im Jahr 2020).

Im Oktober 2020 hatten Indien und Südafrika die vorübergehende Aussetzung von Patenten auf Impfstoffe, Arzneimittel und andere Therapien in Zusammenhang mit Covid-19 für die Dauer der Pandemie und bis zum Erreichen einer weltweiten Herdenimmunität gefordert. In ihrer Forderung wurden Indien und Südafrika von 100 einkommensschwachen Ländern, die Mitglieder der Welthandelsorganisation (WTO) sind, unterstützt.

Diese Länder kämpften mehr als anderthalb Jahre lang für ihr Anliegen. Doch die im Juni 2022 auf der 12. WTO-Ministerkonferenz in Genf erzielte Einigung fiel aus ihrer Sicht bitter aus: Der hartnäckige Widerstand vor allem der EU, den USA, der Schweiz und des Vereinigten Königreichs verunmöglichte eine Aussetzung der Patentrechte.

Nach BerichteExterner Linkn von NGOs wie Oxfam und Emergency trägt vor allem die Schweiz einen entscheidenden Anteil am Ausgang dieser Konferenz: Sie soll sich um die Verwässerung des Abkommens bemüht haben. Die offizielle Schweizer Delegation begrüsste das AbkommenExterner Link hingegen als “Erfolg”.

“Ich denke, die Geschichte um die Covid-19-Impstoffe ist das beste Negativ-Beispiel im Umgang mit dem Recht auf Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt “, sagt Gabriela Ramos zu den Patentverhandlungen. Nach Ansicht der UNESCO-Vertreterin stellen die Regierungen die Gewinne der Pharmaunternehmen über die Gesundheit der Menschen. Aus diesem Grund wachse auch das Misstrauen gegenüber der Wissenschaft.

Die Schweiz: Kein Vorzeigemodell

Die Schweiz scheint also nicht gerade vorbildlich zu sein, wenn es um das Menschenrecht auf Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt geht, auch wenn in der Schweiz wichtige Institutionen wie die UNO ihren Sitz haben und internationale Konferenzen zum Thema ausgetragen werden (wie GESDA).

Die Schweiz verteidigt das Recht auf geistiges Eigentum vehement. Zugleich ist es für Schweizer Bürger:innen schwierig, das Menschenrecht auf wissenschaftlichen Fortschritt vor  internationalen Gremien einzufordern.

“Der Schutz der sozialen und kulturellen Rechte in der Schweiz ist notorisch unzureichend”, meint Samantha Besson, Dozentin und Menschenrechtsexpertin an der Universität Freiburg i.Ü. Trotz wiederholter Aufforderungen von UN-Menschenrechtsgremien habe die Eidgenossenschaft das FakultativprotokollExterner Link zum Internationalen Pakt über soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte nie ratifiziert.

Samantha Besson ist der Auffassung, dass der Druck der Politik und der “Forschungsökonomie” (die Nutzung von Forschung für einen marktfähigen wirtschaftlichen Nutzen) zu stark ist, als dass die Schweiz in absehbarer Zeit eine gesetzliche Stärkung des Rechts auf wissenschaftliche Teilhabe beschliessen könnte.

Die Schweizer Zivilgesellschaft hat schliesslich aber noch das Instrument der direkten Demokratie auf ihrer Seite, um sich Gehör zu verschaffen. Nach Ansicht von Besson ist das jedoch nicht ausreichend, um die Umsetzung  von Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu gewährleisten.

Editiert von Sabrina Weiss. Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob

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