Längerfristig droht eine Zersplitterung der Internets
Steuert das globalisierte Internet, wie wir es heute kennen, seinem Ende zu? Ein Gespräch mit dem Sicherheitsanalysten Kevin Kohler über Zensur, Sanktionen und die fortschreitende digitale Fragmentierung.
swissinfo.ch: Hat das Internet noch eine Zukunft?
Kevin Kohler: (lacht) Das hat es auf jeden Fall – fragt sich nur, wie diese aussehen wird. Die frühe Internetpolitik der meisten Staaten war geprägt von laissez-faire und sehr grossen Freiheiten. Nun sind viele Regierungen etwas aufgewacht und haben gemerkt, dass das Internet strategisch wichtig ist und sie die Zügel wieder in die Hand nehmen wollen. Das gibt Gegensteuer gegen ein globales Internet, wie wir es bisher für selbstverständlich hielten.
Kevin KohlerExterner Link ist Sicherheitsanalyst beim Center for Security Studies an der ETH Zürich, wo er sich mit digitalen Technologien und Risikomanagement befasst. Über die Fragmentierung des Internets schrieb er kürzlich im Report «One, Two, or Two Hundred Internets? The Politics of Future Internet ArchitecturesExterner Link«.
Können Sie Beispiele nennen?
Russland und China sind zwei interessante Fälle, da sie schon seit Beginn der Globalisierung des Internets dessen Governance-Struktur verändern wollen. Wir haben seit jeher ein Multistakeholder-Modell, bei dem Private grossen Einfluss darauf haben, wie das Internet aufgebaut ist und wie es funktioniert. Die beiden Länder wollen das stärker unter staatlicher Kontrolle bringen, das ist ein alter Konflikt.
Was bei Russland speziell ist: Die Sanktionen, die nach der Besetzung der Krim 2014 verhängt und angedroht wurden, haben ihnen ihre Abhängigkeit aufgezeigt. Seither versuchen sie unabhängigere Systeme einzurichten, etwa mit einem nationalen Zahlungssystem – als Alternative zu SWIFT, das den internationalen Zahlungsverkehr abwickelt – oder dem Aufbau eines eigenen Namensystems für Internet-Adressen.
In anderen Bereichen ist die Fragmentierung jedoch weiter vorangeschritten. Moskau hat die Kontrolle über die Inhalte ausgeweitet und Gesetze zur Internetzensur mit drakonischen Strafen eingeführt. Umgekehrt hat Russland durch westliche Sanktionen den Zugriff zu viel Hardware verloren, die sie selber nicht herstellen können: Chips, Equipment für Mobilfunk, solche Dinge.
Ist eine solche Sanktionspolitik nicht zweischneidig? Einerseits soll das Land abgestraft werden, andererseits besteht die Gefahr, dass die Bevölkerung erst recht keine Alternative zur offiziellen Propaganda hat.
Ja, es besteht durchaus eine gewisse Spannung zwischen der wirtschaftlichen Einschränkung des Regimes und dem freien Zugang zu Informationen für die Menschen in Russland.
Die Propagandamaschinerie ist im russischen Fernsehen relativ konkurrenzlos, das Netz lässt sich aber trotz Anstrengungen noch immer nicht gänzlich kontrollieren. Russische Bürger:innen auf Ebene der Inhalte vom Rest des Internets abzuschneiden wäre also nicht zielführend.
Bei den Sanktionen geht es darum, Russland unter dem derzeitigen Regime in seinen technologischen und ökonomischen Möglichkeiten einzuschränken. Diese Sanktionen der USA fokussieren eher auf Hardware, welche Russland nicht einfach woanders beschaffen kann.
Steht uns die Fragmentierung des Internets bevor?
Der Begriff wird oft unscharf verwendet. Häufig ist damit die inhaltliche Ebene gemeint, wenn eben durch Zensur die Inhalte gesteuert werden. Auf der Funktions- und Infrastruktur-Ebene ist das hingegen deutlich schwieriger, weil es für die meisten Länder technologisch gar nicht möglich ist, da einzugreifen.
Eine Ausnahme ist China, das mittlerweile kompetitiver ist, wenn es um Hardware und Infrastruktur geht. Gleichzeitig ist es das Paradebeispiel für abgetrennte Ökosysteme, da sich das Land schon lange hinter seiner Grossen Firewall abgeschottet hat.
Bei den meisten Staaten ergibt sich ein eher diffuses Bild. Nehmen wir etwa Indien, das viele chinesische Apps verboten hat – das hat mit Sicherheitsbedenken zu tun, aber auch mit dem Wunsch die eigene Software-Industrie zu stärken. Das Gleiche auch in Europa: Man will gegenüber den dominanten amerikanischen Big-Tech-Unternehmen kompetitiver werden. Da vermischen sich Fragen der Wirtschaft und der Sicherheit.
Ein Ausdruck der vielbeschworenen Deglobalisierung, die sich auch online abspielt?
Da muss man vorsichtig sein. Die Fragmentierung auf der inhaltlichen Ebene deutet zwar in diese Richtung, gleichzeitig wächst das Internet aber weiterhin: Immer mehr Menschen gehen online, mehr Geräte werden angeschlossen, mehr Geschäfte werden abgeschlossen. Selbst wenn Staaten versuchen, an gewissen Stellen mehr Kontrolle zu erlangen, bedeutet das unter dem Strich noch nicht automatisch eine digitale Deglobalisierung.
Längerfristig muss man sich die Frage aber durchaus stellen. Ein Blick in die Geschichte ist aufschlussreich: Informations- und Kommunikationstechnik breitete sich oft organisch und planlos aus und wurde mit zunehmender Bedeutung unter staatlicher Kontrolle gebracht; man schaue sich das Radio, die Telefonie, das Fernsehen an.
Das Internet trat seinen Siegeszug an als ein Versprechen von Demokratisierung und gesellschaftlicher Teilhabe. Jetzt könnte es sich in sein Gegenteil verkehren, zu einem geschlossenen System, das nur noch mit Propaganda gefüttert wird und der Überwachung dient. Sind das grundlose Ängste?
Das Internet wurde bewusst nach dem Prinzip «Intelligente Endgeräte, Dumme Leitungen» designt, welches die staatliche Kontrolle über das Netzwerk geringhalten sollte. Nun sehen wir aber, dass mit dem technologischen Fortschritt immer mehr Möglichkeiten zur Überwachung und Kontrolle des Netzwerkes gibt. Unter dem Strich ist es meiner Meinung aber so, dass das Netz noch immer einen positiven Effekt hat. Das Internet hat auch in Ländern wie Russland noch immer mehr Raum für Dissens als das Fernsehen. Aber grundsätzlich stimmt: Es ist nicht inhärent gegeben, dass mit dem Internet die Demokratisierung kommt.
Das Ganze ist auch nicht frei von einer Ironie: Der Westen hat ab den 1990ern viel Wissen und Technologie nach China transferiert. Man dachte damals, dass sich mit der Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechnik automatisch eine politische Liberalisierung einstellen würde. Am Ende ist eher das Gegenteil passiert – man hat der kommunistischen Partei die Mittel zur Hand gegeben, ihre Grosse Firewall aufzubauen.
Stichwort China: Stehen wir vor der Errichtung eines digitalen Eisernen Vorhangs? Oder sind wir schon mittendrin?
Es gibt noch immer sehr grosse Verflechtungen, aber die Tendenz geht in diese Richtung: Vielleicht haben wir eines Tages zwei komplett voneinander getrennte Systeme.
Ich unterscheide hier zwischen Fragmentierung und Bifurkation. Bei der Fragmentierung in viele nationale Segmente des Internets geht es primär um mehr staatliche Kontrolle über Inhalte. Bifurkation ist hingegen eine tiefergreifende Entkopplung in zwei Ökosysteme mit separaten Standards und separater Hardware.
Diese zweite Entwicklung ist Ausdruck der strategischen Rivalität zwischen China und den USA, die einzigen zwei Länder, welche über fast alle technologischen Bausteine des Internets hinweg konkurrenzfähig sind. China will ein eigenes Ökosystem etablieren und auch exportieren. Es hat im Rahmen der «Digital Silk Road» bereits mit vielen Ländern Vereinbarungen getroffen, wonach China Geld für den Aufbau digitaler Infrastrukturen ausleiht, welche dafür chinesische Unternehmen und Standards verwenden. Die USA sehen dies und versuchen chinesische Schlüsselunternehmen durch Sanktionen auszubremsen. Das funktioniert, stärkt aber wiederum Chinas Drang nach unabhängigen Lieferketten.
Ähnlich wie im Kalten Krieg versuchen beide Seiten Allianzen zu schmieden und ihren Einfluss auszubauen. In manchen Aspekten greift die Analogie aber zu kurz: Damals waren die Blöcke nicht so eng miteinander verzahnt wie heute, zudem ist China heute was Bevölkerung und Innovationskraft angeht ein anderer Gegenspieler zu den USA, als es die Sowjetunion war.
Wie positioniert sich da die Schweiz? Wie ist Neutralität im Netz möglich?
Aussenpolitik und Digitalisierung will man schon länger enger verknüpfen. Wichtig ist dabei Genf, die schon heute ein Zentrum multilateraler Politik ist. Die Regierung will Genf zur internationalen Hauptstadt für digitale Gouvernanz machen, und unterstützt entsprechende Initiativen.
Das gehört zur Standortpolitik und ist ein Pfeiler der schweizerischen Neutralität. Was aber interessant ist, ist dass China und Russland das Internet ebenfalls nach Genf verschieben wollen. Konkret zur International Telecommunication Union. Dies, um einen multilateralen Ansatz zur Internetgouvernanz zu fördern und ein Gegengewicht zu den USA herzustellen. Die Schweiz ist hier etwas in einem Spannungsfeld, weil man das internationale Genf stärken, aber gleichzeitig weiterhin auf das Multistakeholder-Modell setzen möchte.
Welche Rolle kann das «Digitale Genf» dabei spielen? Kevin Kohler hat gemeinsam mit Nicolas Zahn die wichtigsten Punkte zusammengefasst:
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Die Schweiz sollte das «digitale Genf» stärken
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