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Unruhe im Paradies: Wie der Ukraine-Krieg die Schweiz verändert

Ignazio Cassis und Wolodimir Selenski vor Landesflaggen
Der Krieg in der Ukraine hat die Schweiz zurück auf die Weltbühne der Diplomatie, aber auch in die Bredouille gebracht – der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis (links) und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski bei einem Treffen in Kiew im Oktober 2022. Keystone / AP

Von der Konfiszierung russischer Privatvermögen bis zur Aufgabe der Neutralität: Die Schweiz ist nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine mit bisher undenkbaren Forderungen konfrontiert. Doch wie realistisch ist ein Wandel im beständigen Alpenland? Eine Analyse und fünf Prognosen.

Russische Vermögen

Noch hat die Schweiz keine russischen Gelder für den Wiederaufbau der Ukraine eingezogen. Doch der Druck im In- und Ausland wächst. Deutlich wird das in der Tonalität.

So sagte Aussenminister Ignazio Cassis am Rande des Weltwirtschaftsforums diesen Januar in Davos, eingefrorene Oligarchengelder seien “eine mögliche Quelle für den Wiederaufbau der Ukraine”. Aber nicht ohne den Nachsatz, dass es dafür eine Gesetzesgrundlage und eine internationale Kooperation brauche.

So vage das Statement war, es reichte aus, um am Schweizer Finanzplatz einige Nervosität auszulösen.

Noch vor einem halben Jahr hatte derselbe Cassis, der im Bundesrat die liberale FDP vertritt, vehement vor einer Enteignung gewarnt. Es wäre ein “gefährlicher Präzedenzfall”, sagte er damals an der von der Schweiz ausgerichteten Ukrainekonferenz in Lugano.

Dass sich vorab die Rhetorik ändert, macht zweierlei deutlich:

Erstens, dass die Schweiz nicht vorangehen wird. Das ist nicht neu. Gerade wenn es um den Finanzplatz geht, handelt die Schweiz durchwegs defensiv. Bei den Sanktionen gegen Russland zögerte sie, bevor sie schliesslich der EU folgte.

Für die Schweiz ist es eine Gratwanderung: Man will die USA und Europa nicht verärgern, gleichzeitig soll das Versprechen, dass die Vermögen dieser Welt hier vor Willkür sicher sind, möglichst unbeschadet bleiben.

Zweitens scheint darin die – gemessen an den politischen Forderungen – schwierige Rechtslage auf. Die Eigentumsgarantie ist in der Schweizer Verfassung festgeschrieben.

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Enteignen statt einfrieren: Geht das in der Schweiz?

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Viele westliche Länder haben Gelder von russischen Oligarchen eingefroren. Einige wollen die Mittel für den Wiederaufbau der Ukraine verwenden.

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Nach Meinung einer Mehrheit der Schweizer Rechtsexpert:innen gibt es für die Enteignung russischer Privatvermögen keine legale Grundlage. Zuletzt hat eine hochrangige Arbeitsgruppe unter der Leitung des Bundesamts für Justiz diesen Umstand bestätigt.

Andere westliche Staaten sind nicht viel weiter. Bislang haben Kanada und Kroatien eine Verwendung privater russischer Vermögen zugunsten der Ukraine angekündigt. Alle anderen Staaten diskutieren erst.

Druck kommt nebst der Ukraine von den osteuropäischen Staaten, aber auch von den USA. Wobei die Karten mit dem Mehrheitswechsel im US-Repräsentantenhaus neu gemischt wurden. Ob die Republikanische Partei weitgehende Enteignungen mittragen wird, ist zumindest fraglich.

Der internationale Druck auf die Schweiz ist ein Resultat der hiesigen Oligarchendichte. Rund 150 bis 200 Milliarden Franken sollen russische Staatsbürger:innen auf Schweizer Banken konzentriert haben, schätzt die Bankiervereinigung.

7,5 Milliarden und 17 Liegenschaften sanktionierter Privatpersonen aus Russland hat der Bund bislang eingefroren. Zum Vergleich: In der ganzen EU wurden erst rund 19 Milliarden Euro blockiert.

Auch Reserven der russischen Zentralbank sollen bei Schweizer Banken liegen. Gemäss einem Faktenblatt des Staatsekretariats für internationale Finanzfragen handelt es sich um bis zu zwei Prozent der russischen Zentralbankengelder.

Sie sind offiziell nicht eingefroren, dürfen de facto aber nicht transferiert werden. Einige Rechtsexperten haben die Meinung geäussert, dass für diese Gelder am ehesten eine Rechtsgrundlage für eine Konfiszierung zu finden oder erfinden sei.

Prognose: Sollte die Schweiz je einen solchen Schritt wagen – das zeichnet sich schon heute ab – dann erst, wenn dafür eine internationale Rechtsgrundlage besteht.

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Schweizer Waffen 

In den westlichen Ländern nicht beliebt gemacht hat sich die Schweiz mit ihrer Blockade zur Wiederausfuhr von Rüstungsgütern.

Prominentestes Beispiel ist die Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard, mit der Deutschland die Ukraine unterstützen wollte. Aber auch Gesuche von Spanien und Dänemark hat die Schweiz abgelehnt.  

Zuletzt hat Deutschland angekündigt, die Munition künftig selbst herstellen zu wollen, was in der Schweiz eine Diskussion um Arbeitskräfte in der Rüstungsindustrie losgetreten hat.

Tatsächlich gilt die Rüstungsindustrie gesamtwirtschaftlich als vernachlässigbar, sie trägt bloss 2,5 Prozent zum Umsatz der gesamten Metall-, Elektro- und Maschinenindustrie bei. Sie betreibt aber viel politische Lobbyarbeit.

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Wie die Schweiz vom Krieg profitiert

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die weltweite Aufrüstung im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine ist ein Glücksfall für Unternehmen, die in der Schweiz Waffen produzieren.

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Wichtigstes Argument: Ohne Exporte lässt sich die Schweizer Waffenindustrie in ihrer heutigen Grösse aus ökonomischen Gründen nicht erhalten, was der Selbstversorgung der Schweiz mit Waffen und damit indirekt dem Prinzip der bewaffneten Neutralität zuwiderläuft.

Entsprechend sensibel reagiert der national-konservative Flügel der Schweizer Politik auf jede Rückbindung der Rüstungsindustrie. 

Verboten wird die Wiederausfuhr von Schweizer Rüstungsgütern in Kriegsgebiete durch Drittstaaten durch das Kriegsmaterialgesetz, das erst vor einem Jahr verschärft worden war. Über Jahre machten Parteien links und in der Mitte des politischen Spektrums Druck auf die Rüstungsindustrie. Der Ukrainekrieg setzt nun neue Impulse: Plötzlich ist die restriktive Praxis auch unter linken Parteien nicht mehr unumstritten.  

Prognose: Dass sich die Schweiz in diesem Punkt bewegt, schien zwischenzeitlich so gut wie gewiss. Auf Bundesebene sind zwei politische Vorstösse hängig, die eine entsprechende Rechtsgrundlage schaffen wollen, in einem Fall befristet und mit Beschränkung auf den Krieg in der Ukraine. Im anderen Fall mit genereller Wirkung und einer völkerrechtlichen Basis. 

So soll die Wiederausfuhr unter anderem an die Bedingung geknüpft werden, dass ein Konflikt vom Uno-Sicherheitsrat oder von zwei Dritteln der Uno-Vollversammlung als völkerrechtswidrig beurteilt worden ist. Im Falle des Ukraine-Krieges hat die Vollversammlung bereits entsprechend entschieden. 

Zuletzt bröckelte die Unterstützung im Schweizer Parlament aber. Ob es für eine Mehrheit reicht, dürfte von der Sozialdemokratischen Partei abhängen und nicht zuletzt von der Frage, welche Resonanz die von deutschen Linksintellektuellen angestossene neue “Friedensbewegung” in der Schweiz findet.   

Offen ist auch die Frage, ob eine Gesetzesänderung für die Ukraine noch rechtzeitig käme. Die Schweizer Demokratie benötigt Zeit. Das dauert auch im Inland vielen zu lang. Politiker:innen verschiedener Couleurs diskutieren deshalb unverhohlen über Umgehungen.

Im Gespräch ist etwa ein Ringtausch. Die Idee ist, dass die Schweiz eingemottete Panzer an den Hersteller in Deutschland zurückverkauft, was rechtlich ohne Einschränkungen möglich ist. Deutschland könnte die Panzer dann Ländern zur Verfügung stellen, die ihrerseits Panzer an die Ukraine geliefert haben und so ihre eigenen Bestände wieder aufstocken.

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Wird die Schweiz der NATO beitreten?

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Der Ukraine-Krieg hat in neutralen Ländern die Debatte über einen NATO-Beitritt neu entfacht. Wir haben mit einer Sicherheitsforscherin gesprochen.

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Neutralität 

Gross war die internationale Resonanz, als sich die Schweiz Ende Februar 2022 den EU-Sanktionen gegen Russland anschloss. Das mag damit zu tun haben, dass sie länger brauchte, um einen Entschluss zu fassen.

Vor allem aber demonstrierten die Reaktionen, dass die Schweizer Neutralität im Ausland nicht verstanden wird. Sanktionen gehören seit den Neunzigerjahren zur Schweizer Aussenpolitik, der Nachvollzug ist Usus.

Die Schweiz, muss man wissen, verfolgt Neutralität nicht als universelles Prinzip, sondern rein militärisch. Vereinfacht gesagt: Sie nimmt nicht an bewaffneten Konflikten Teil und beliefert keine Konfliktparteien mit Waffen. So ist es im Haager Abkommen von 1907 geregelt, das die offizielle Schweiz nach wie vor als neutralitätsrechtlich bindend betrachtet.

Politisch motivierte Verstösse gegen das Abkommen gab es in der Schweizer Geschichte im Zweiten Weltkrieg wie im Kalten Krieg. Sie blieben aber immer punktuell.

Nach Ansicht einiger Expert:innen würde die jetzt diskutierte Änderung des Kriegsmaterialgesetzes – die de facto eine indirekte Waffenlieferungen an die Ukraine ermöglicht – eine Abkehr vom Neutralitätsrecht bedeuten.

Völkerrechtler Oliver Diggelmann von der Universität Zürich sagte dazu kürzlich in einem Interview Externer Linkmit dem Tages-Anzeiger: “Es wäre ein nicht unschweizerischer Weg (…) Wir tun so, als wüssten wir nicht, dass das neutralitätsrechtlich nicht geht. Und könnten so den internationalen Druck abfedern.”

Prognose: Die rechtskonservative Schweizer Volkspartei SVP sammelt derzeit Unterschriften für eine Initiative, die mittels Verfassungsänderung eine enge Auslegung der Neutralität sichern will.

Dass es zur Abstimmung kommt, ist fast sicher. Ein Ja an der Urne hingegen weniger. Wahrscheinlicher ist die Rückkehr zur bisherigen Praxis – also zur Behauptung, die Schweizer Neutralität sei unangetastet, während sie im Krisenfall bedarfsgerecht ausgelegt wird.

Flüchtlinge

Die Schweiz erlebte 2022 den grössten Zustrom von Flüchtigen seit dem Zweiten Weltkrieg. Das System der Unterbringung und Versorgung ist am Anschlag. Allein 75’000 Vertriebene, vorab Frauen und Kinder, kamen aus der Ukraine.

Zugenommen haben nach einem pandemiebedingten Unterbruch aber auch die Zahlen der Asylsuchenden aus anderen Ländern – rund 24’000 Gesuche wurden 2022 gestellt, Tendenz steigend.

Die Schweiz hat den geflüchteten Ukrainer:innen den Schutzstatus S gewährt, er erlaubt ihnen zu arbeiten und ermöglicht ein normales Leben. Viele ukrainische Familien wurden zunächst privat untergebracht.

Nicht alles funktionierte dabei reibungslos, bisher ist der Umgang mit den Geflüchteten in der öffentlichen Wahrnehmung aber positiv besetzt, wie die mediale Berichterstattung dokumentiert.

Probleme gibt es durchaus, etwa bei der Integration im Arbeitsmarkt. Trotz hohem Bildungsstand der Ukraine-Flüchtlinge haben nur 15% eine Arbeit gefunden. Oder auf Ebene der Schulen, denen es an Lehrkräften mangelt. Kritik gibt es zunehmend auch an der Unterbringung. Einige Kantone mussten auf Notlösungen ausweichen.

Prognose: Wegen der nationalen Wahlen in diesem Jahr ist eine laute Diskussion um die Zuwanderung absehbar. Daran dürfte vor allem die migrationskritische SVP ein Interesse haben. Noch aber ist der Effekt des Themas gering. Bei den Regionalwahlen in Zürich, die als Gradmesser für die Schweizer Politik gelten, konnte die Partei nur geringfügig zulegen.

Energie

Die Sorge um die Energiesicherheit der Schweiz dominierte die Schlagzeilen im Sommer und Herbst. Die Regierung startete eine Kampagne, mit der sie zum Energiesparen aufrief. Ohne der Bevölkerung allzu viel abzuverlangen: Duschen statt Baden lautete eine der Empfehlungen.

Ein milder Herbst und Interventionen auf mehreren Ebenen in Europa – insbesondere der Import von Flüssiggas aus Übersee – haben die Energiekrise dann abgewendet. Das Gas-Embargo Wladimir Putins entpuppte sich als weniger wirkungsmächtig als befürchtet. Entsprechend ist das Thema in der Schweiz etwas aus dem Fokus gerückt.

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Was bleibt, sind langfristige Effekte wie neue Lieferketten für Erdgas, ein Boom der Wärmepumpen-Industrie sowie vor allem höhere Lebenskosten. Die Strompreise in der Schweiz sind erheblich gestiegen, das bildet sich im Konsum ab.

Die Inflation ist zwar geringer als im europäischen Umfeld, betrug im Januar aber doch für die Schweiz unübliche 3,3 Prozent. Einige Parteien nutzen die Lage, um den Atomausstieg der Schweiz respektive den Zeitplan in Frage zu stellen.

Prognose: Einen neuen AKW-Boom wie andere Länder wird die Schweiz nicht erleben. Die Inflation wird im ausgetrockneten, von einem Fachkräftemangel geprägten Arbeitsmarkt, von Lohnmassnahmen der Arbeitgeber aufgefangen. Soziale Unruhen drohen nicht. Da gerade der Strompreis verzögert steigt, wird das Energiethema innenpolitisch aber wieder an Bedeutung zulegen.

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