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Sie will, dass Holcim für Klimaschäden bezahlt

Nina Burri
Überzeugungstäterin: Die Juristin Nina Burri. Valeriano di Domenico

Die Juristin Nina Burri sieht sich nicht als Aktivistin. Fachliche Klarheit und akademische Richtigkeit bedeuten ihr alles. Dennoch will sie mit einer riskanten Klimaklage eines der grössten Schweizer Unternehmen vor Gericht bringen.

Ein unscheinbares Bürogebäude hebt sich schemenhaft vom grauen Himmel ab. Es gibt bessere Adressen in Zürich, doch die würden nicht passen zu HEKS. Das kirchliche Schweizer Hilfswerk will mehr: eine bessere Welt. HEKS, das von hier aus arbeitet, hat sich dem Kampf für Klimagerechtigkeit verschrieben.

In diesen Räumen führt die Schweizer Juristin Nina Burri gerade ein Dossier, das die Rechtssprechung umkrempeln könnte, falls der Plan aufgeht. Die andere Möglichkeit ist: Ernüchterung, gepaart mit hohen Prozesskosten.

Unrecht auf der Spur

Nina Burri ist keine klassische Klimakämpferin, doch engagiert war sie immer. Als Jugendliche wollte sie Kriegsreporterin werden. Dann wurde der Kampf gegen Unrecht zum Treiber ihrer Karriere. Sie landete beim Völkerstrafrecht, hat für den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Kriegsverbrecher verfolgt.

Als Burri für die Anklage in Krisengebiete reiste und Fälle dokumentierte, kam sie mit Überlebenden von Kriegsverbrechen in Kontakt. Die Diskrepanz zwischen Leid und Wohlstand sei in solchen Momenten schwer auszuhalten, sagt sie. Bitter wurde sie dadurch nicht – Burri wirkt warm und einnehmend, führt mit energischen Schritten in ein kleines Sitzungszimmer, spricht schnell und unverkrampft.

Heute unterrichtet die 39-Jährige auch Internationales Recht an der Universität St. Gallen. Sie hat beste Qualifikationen, könnte ebenso gut in einer Hochglanz-Kanzlei im Zürcher Prime Tower arbeiten. Dort sind ihre juristischen Gegenspieler in der Klimaklage gegen den Zementkonzern Holcim domiziliert.

Burri hat sich für die andere Seite entschieden, aus Überzeugung, weil sie sah, “wie absolut dringlich das Klimaproblem ist.” Als sie erzählt, wie sie sich mit den wissenschaftlichen Grundlagen beschäftigte, wird die Juristin erstmals etwas nachdenklicher und senkt die Stimme.

Für HEKS unterstützt sie vier indonesische Inselbewohner dabei, vom Schweizer Zement-Hersteller Holcim Schadenersatz einzufordern. Und sie versucht, die Firma gerichtlich dazu verpflichten zu lassen, in Zukunft weniger CO2 auszustossen.

Abenteuerliche Klage

Es geht um bereits entstandene Flutschäden und eine drohende Überflutung der gesamten Insel. Die Anklage macht den steigenden Meeresspiegel und atmosphärische Veränderungen dafür verantwortlich – und damit auch die Zementproduktion von HolcimExterner Link.

Die Logik der Klage erscheint abenteuerlich: Weil der Zementkonzern für 0,42% aller industriellen Treibhausgasemissionen verantwortlich sei, müsse die Firma auch für diesen Anteil der Schäden auf der indonesischen Insel Pari bezahlen. Den exakten Prozentsatz von 0,42 hat das Climate Accountability Institute im amerikanischen Colorado für HEKS errechnet.

Die Emissionen sind nicht vor Ort angefallen, sondern über Länder und Jahre hinweg. Holcim arbeitet nicht auf der Insel Pari, wo die Kläger:innen wohnen. Die Firma hat derzeit nicht einmal mehr ein Werk in Indonesien. Vor vier Jahren zog sich der Schweizer Zementriese ganz aus dem Land zurückExterner Link.

Insel Pari
Insel Pari, Indonesien. Keystone / Mast Irham

Ein Leiturteil soll her

Eine Schadenersatzforderung für historische Emissionen ist neu. HEKS selbst spricht von einem “bahnbrechenden” VerfahrenExterner Link. Der Fall nimmt gleichzeitig die Vergangenheit und die Zukunft ins Visier und mutet damit radikal an. Präzedenzfälle gibt es für die Forderungen, Flutschutzmassnahmen mitzufinanzieren und zukünftige Emissionen zu begrenzen.

“Es wird sicher lang und holprig,” sagt Burri. Sie hat im Lauf ihrer Karriere auch schon an einem Gericht im Kanton Zürich gearbeitet. Ablauf und Hürden solcher Verfahren sind ihr bekannt. “In zivilrechtlichen Prozessen ist das Risiko für den Kläger sehr hoch,” sagte sie vor zwei JahrenExterner Link, als in der Schweiz über die sogenannte Konzernverantwortungsinitiative gestritten wurde.

Diese Volksinitiative wollte, dass Konzerne für im Ausland begangene Verstösse gegen Menschenrechte in der Schweiz haften. Im Abstimmungskampf argumentierten die Gegner:innen mit einer ungerechtfertigten “Klagewelle” gegen Unternehmen, mit der zu rechnen sei. Burri aber hielt damals dagegen: NGOs würden die Beweislage vor einer allfälligen Klage sehr sorgfältig abwägen. “Ein negativer Präzedenzfall wäre sicherlich nicht in unserem Interesse”, sagte sieExterner Link damals.

“Das Klima ist nicht politisch”

Und jetzt das: Ist das nicht genau so ein Fall, den man nur verlieren kann? Ist das nicht ein letztlich politisch motiviertes Verfahren, das darauf abzielt, eine einzelne Firma an den Pranger zu stellen? “Das Klima ist nicht politisch,” antwortet Burri dezidiert. “Und der Klimawandel ist auch nicht politisch. Er ist ein tatsächliches Phänomen, das man naturwissenschaftlich belegen kann.”

Ihr Punkt ist, dass die Klimakrise immer mehr Lebensbereiche und damit auch Rechtsgebiete erfasse. Es sei Aufgabe der Gerichte, das Recht auf diese neue Realität anzuwenden. Die Mission mag waghalsig erscheinen, doch Burri wirkt klar, auch unerschrocken, voller Optimismus und Tatendrang.

Nur als “aktivistisch” möchte sie sich nicht bezeichnet sehen. “Wir unterstützen Menschen, die in ihren Lebensbedingungen akut geschädigt und in Zukunft weiter bedroht sind,” erklärt sie. “Dass die Betroffenen gegen einen Mitverursacher des Schadens vorgehen, ist völlig normal im Haftpflichtrecht.” Auch dass es um einen internationalen Sachverhalt gehe, sei heute keine Ausnahme mehr.

Theoretisch könnte sich die Klage gegen verschiedene Unternehmen richten, die den Klimawandel befeuern, gibt Burri zu. Holcim stehe deshalb im Visier, weil in der Zementproduktion ungewöhnlich viel CO2 anfalle.

“Die Firma ist mit Abstand der grösste Klimasünder der Schweiz, seit Jahrzehnten. Deshalb macht eine Klage hier einen Unterschied. Erdöl- und Gaskonzerne kamen als erste unter Beschuss und die zweite Reihe ist die Zementindustrie.”

Wissentlich gehandelt

Wie aber sieht ihre Strategie aus? Der Kernpunkt der Zivilklage sei, dass diese Firma wissentlich mitgeschädigt habe, führt Burri aus. “Der Zementindustrie ist spätestens seit den 1970er-Jahren klar, dass ihre Produktion massive Mengen CO2 freisetzt.” Man habe auch gewusst, dass dies stark zum Klimawandel beiträgt.

Seit mehreren Jahrzehnten wisse die Industrie zudem, dass durch die Erderwärmung grosse Schäden entstehen würden. Die Firma hätte ihr Verhalten also ändern müssen, selbst wenn es legal war, so das Argument. “Es ist wie im Verkehr: man kann sich legal bewegen, aber wenn man wissentlich einen Schaden verursacht, dann haftet man,” sagt Burri. Sobald juristische Fragen zur Sprache kommen, wählt Burri ihre Worte sorgfältig.

Letztlich gehe es bei dem Verfahren darum, Emissionen schnell, zwingend und in absoluten Grössen zu reduzieren, um das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen. “Da haben wir wirklich fast keine Zeit mehr,” sagt Burri. Es sei ein strategischer Fall, kein symbolischer: “Der Klimawandel kann kein rechtsfreier Raum sein.”

“Holcim sieht sich als Leader und muss besser werden”, sagt Nina Burri. Valeriano di Domenico

“Holcim muss besser werden”

Burri sagt, sie wolle Unternehmen nicht generell verteufeln. Sie erhofft sich vom Privatsektor wichtige Lösungen gegen den Klimawandel, und selbst an Holcim findet sie Positives: Die Firma habe eine Klimastrategie, sei besser als die Konkurrenz und habe ausführlich auf die Fragen von HEKS geantwortet, als die Organisation vor dem Verfahren das Gespräch suchte.

Aber: “Holcim sieht sich als Leader und muss besser werden. Das Emissionsproblem wurde viel zu spät angegangen und es wird auch heute noch zu wenig investiert.” Ausserdem habe das Unternehmen die Mittel, um das zu ändern.

“Die Klimakrise ist eine der grössten Bedrohungen der Menschenrechte unserer Zeit”, sagt Burri. Es könne nicht sein, dass es ausgerechnet dafür rechtsfreie Räume gebe. Dass auch die Gerichte dies so sehen, das ist Burris Kampf. Dafür gibt sie dem dämmrigen Sitzungsraum von HEKS den Vorzug. Die lichtdurchfluteten Hochglanz-Büros im Zürcher Prime Tower – da arbeitet die andere Schweiz.

*Ariane Lüthi ist ehemalige Diplomatin und war Menschenrechtsspezialistin bei Holcim. Seit 2020 ist sie als Journalistin tätig. Editiert von Balz Rigendinger.

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