Auf den Spuren urzeitlicher Kristalljäger
In den Schweizer Alpen erforschen Archäolog:innen eine einzigartige Fundstelle, die vor rund 10'000 Jahren von Bergleuten genutzt wurde. Sie stossen auf Fragmente von Kristallen, die Einblicke in eine längst vergangene Kultur geben.
Unsere Steigeisen knirschen in den Resten des Brunnifirn-Gletschers in der Zentralschweiz. Als wir innehalten, hören wir das Rinnsal des Schmelzwassers unter uns. Die spätsommerliche Landschaft ist ein unwirkliches Becken aus geriffeltem Altschnee, das von kahlen, zerklüfteten Gipfeln umringt ist.
In der Steinzeit wanderten hier Jäger und Sammler auf der Suche nach Kristallen. Das mag nach New Age klingen, aber ihre Mission hatte nichts Spirituelles oder Mystisches an sich. Diese prähistorischen Handwerker stöberten nach glitzernden Schätzen, die sie in Pfeilspitzen, Klingen, Ahlen und andere Werkzeuge verwandelten.
Der selbständige Archäologe Marcel Cornelissen, ein fröhlicher 45-Jähriger mit einer Leidenschaft für Bergsport, ist diesen urzeitlichen Schatzsuchern seit Jahren auf der Spur. Er muss seine jährliche Feldarbeit in kurze Zeitfenster quetschen, in denen die Wetterbedingungen stimmen.
Die jüngste Expedition im September 2020 kam nur dank eines zurückweichenden Gletschers und des Hinweises eines modernen Kristalljägers zustande. Dieser so genannte Strahler hatte mehrere Kristallscherben gefunden, dazu zwei Teile von Geweihen sowie einige Holzstücke.
Fachleute konnten eines der Geweihstücke mittels Radiokarbonanalyse auf 6000 v. Chr. datieren. Damit ist es der älteste im Alpeneis erhaltene Fund seiner Art und wesentlich älter als Ötzi, die Mumie eines Mannes, der um 3200 v. Chr. in den norditalienischen Alpen starb und 1991 gefunden wurde. Die Abdrücke auf dem Geweih lassen vermuten, dass es zur Gewinnung des Quarzkristalls verwendet wurde.
Nach Angaben des Urner Instituts «Kulturen der Alpen»Externer Link von der Universität Luzern, welches das Forschungsprojekt von Cornelissen in Auftrag gegeben hat, handelt es sich um die einzige bekannte prähistorische Bergkristall-Fundstelle in der Gotthardregion. Weitere Fundorte befinden sich etwa 100 Kilometer südwestlich, im Kanton Wallis, genauer im Simplongebiet und Binntal.
Die Ausgrabung
An diesem Septembermorgen ist Cornelissen selbst ein Bergarbeiter, der im Auftrag der Kantonsarchäologie UriExterner Link die Ausgrabung leitet. Zum dritten Mal sucht er auf dem Brunnifirn-Gletscher nach Artefakten. Er hofft, dass es noch mehr zu entdecken gibt, bevor das Projekt Ende 2022 abgeschlossen wird. Seine Funde deuten darauf hin, dass an dieser Stelle bereits 8000 v. Chr. Bergbau betrieben wurde.
«Es wäre schön, noch ein paar Stücke zu finden, um wirklich sicher zu sein», sagt er. «Ich hoffe auch, dass wir am Ende genug Material zusammenhaben, um einen guten Eindruck davon zu erhalten, wie diese Menschen gearbeitet haben.»
In der Zwischenzeit graben seine drei Kolleg:innen eine Stelle auf einem kleinen Hügel aus. Sie ist schneefrei und misst etwa sechs Quadratmeter. Der Platz ist eng, also gehe ich aus dem Weg.
Ich setze mich auf einen grossen Stein in der Nähe, der an der Unterseite mit kleinen Rauchquarzkristallen besetzt ist. Die Zacken sind so scharf, dass sie die Haut an meinen Fingern aufschneiden, aber die Schnitte sind so fein, dass ich keinen Schmerz verspüre.
Derweil schieben Annina Krüttli und die anderen Archäolog:innen Steine den Hügel hinunter. Ihre Spaten und Kellen graben sich klirrend in die Felsen.
Krüttli legt eine Pause ein, um ihre Strategie zur Freilegung archäologischer Schätze zu erklären: «Momentan arbeiten wir uns durch viel Gestein durch», sagt sie. «Interessante Funde könnten sich dicht an der Oberfläche befinden, also tragen wir nur die obersten fünf Zentimeter ab, packen alles in Säcke und nehmen es mit.»
Wenn die Archäolog:innen fertig sind, haben sie 60 Säcke gefüllt. Sie benötigen einen Hubschrauber, der das Material ins Dorf Sedrun fliegt. Dort warten Fahrzeuge, mit denen das Material weiter zum Zielort transportiert wird.
Bei den robusten Plastiksäcken handelt es sich um Müllsäcke, die auf den ersten Blick zu gewöhnlich für potenziell wertvolle Artefakte erscheinen. Aber sie seien ideal und passend, sagt Cornelissen: «Es ist prähistorischer Müll, den wir da aufsammeln.»
Für die urzeitlichen Ingenieure mögen diese Gegenstände «Müll» gewesen sein, aber sie besitzen eine eigentümliche Schönheit. Cornelissen zeigt mir ein Kristallfragment, das gerade freigelegt wurde: Es hat im Ansatz eine dreieckige Form und ist – zumindest für ein fachkundiges Auge – eindeutig von einem Menschen behauen worden.
«Das ist kein Werkzeug. Es ist Abfall, ein Überrest des Produktionsprozesses», erklärt Cornelissen. Die Form des Kristalls passt zu ähnlichen Funden in der Schweiz, die auf die Zeit vor 8000 Jahren zurückgehen.
«Es gab damals keine Bauernhöfe, keine Kirchen, keine festen Gebäude, aber diese Menschen waren hier und haben Kristall abgebaut», sagt Cornelissen. «Wenn man ihre Hinterlassenschaften mit modernem Müll wie Bonbonpapier und Plastikflaschen vergleicht, ist das schon sehr beeindruckend.»
Er versiegelt das Kristallfragment in einer durchsichtigen Tüte, an der ein Zettel klebt, auf dem der genaue Fundort vermerkt ist. Dies wird er mit allen guten Stücken tun, die in den folgenden zwei Tagen auftauchen. Die übrigen Artefakte sowie das Erdmaterial landen in den schwarzen Müllsäcken, die ebenfalls beschriftet werden.
Die Grenzen von Zeit und Raum
Inzwischen steht die Sonne tief, die Temperatur sinkt. Es ist Zeit für uns, zusammenzupacken. Wir schnallen die Steigeisen an und seilen uns an. Das Schmelzwasser plätschert unter unseren Füssen; es ist ein spielerisches Geräusch, das uns aber auch daran erinnert, wie sich die Landschaft verändert hat.
Zwischen 1973 und 2010 hat der Brunnifirn-Gletscher fast ein Viertel seiner Masse verloren: Er schrumpfte von 3,02 auf 2,31 QuadratkilometerExterner Link.
Auf der anderen Seite des Gletschers erwarten uns das Abendessen und Stockbetten in der Cavardiras-Hütte auf 2649 Metern. Haben die Kristalljäger auch hier oben geschlafen?
Cornelissen glaubt das aufgrund der Gegenstände, die er in der Nähe gefunden hat – einfache Werkzeuge, die wahrscheinlich vor Ort hergestellt wurden, um sie ein paar Tage lang zu benutzen.
«Sie waren nicht nur für ein paar Stunden hier. Nein, sie haben wohl ein Lager aufgeschlagen, vielleicht übernachtet. Vielleicht haben sie auch ein Kleidungsstück genäht oder einen Imbiss zu sich genommen. Am nächsten Tag zogen sie weiter», sagt er.
Das Verständnis des saisonalen Zyklus der Kristallgewinnung könnte Aufschluss darüber geben, wie sich die Menschen damals durch die Landschaft bewegt haben: Ein Ausflug auf den Berg könnte Teil einer Jagdreise quer durchs Land gewesen sein; der Quarzkristall könnte als gewisses gesellschaftliches Gütesiegel gedient haben, ähnlich wie er das heute bei Strahlerinnen und Strahlern tut.
Niemand kann das mit Sicherheit sagen. Auf jeden Fall gibt es in der Gegend keinen Feuerstein, ein typisches Gestein, das für prähistorische Werkzeuge verwendet wurde.
Am nächsten Morgen breche ich zur Rückkehr auf, genau wie der Archäologe Christian Auf der Maur – obwohl er gerne weitergraben würde.
Auf der Maur ist gross und trittsicher und bietet mir an, mit mir den anspruchsvollen alpinen Weg zu wandern, der anfangs verschneit, steinig und steil ist und am Ende in eine grüne Landschaft mit Alpenblumen und Heidelbeeren führt. Die Wanderung dauert mehrere Stunden – eine gute Gelegenheit, sich über die Ausgrabung zu unterhalten.
Wie gehen er und seine Teammitglieder mit den zeitlichen und räumlichen Grenzen der Forschung um? Schliesslich könnten nur wenige Spatenstiche entfernt noch unglaubliche Artefakte auf ihre Entdeckung warten.
«Wenn man Ausgrabungen durchführt, muss man fast jedes Mal etwas zurücklassen. Damit muss man als Archäologe leben. Wir versuchen, das Beste aus den vorhandenen Funden herauszuholen», sagt Auf der Maur, der für die Abteilung Denkmalpflege und Archäologie des Kantons Uri arbeitet.
Das Team hofft, bei dieser Exkursion die wichtigsten Funde gemacht zu haben. Bis das Projekt Ende 2022 abgeschlossen ist, werden sie aber noch einige Male Gelegenheit haben, die Umgebung zu untersuchen.
Waschen und Sortieren
Zwei Monate später empfängt mich Cornelissen vor einem Lagerhaus in der Ostschweiz. Er hat seine Bergausrüstung gegen Gummihandschuhe und eine wasserdichte Schürze getauscht, damit er gemeinsam mit Krüttli die 976 Kilogramm Erde, Gestein und Kristalle vom Brunnifirn-Gletscher durchsieben und waschen kann.
Während das Wasser sprudelt und Erdklumpen abschwemmt, beginnen nicht nur die Steine zu glänzen, sondern auch Cornelissens Augen. Nun kommt der mühsame Part: jedes Stück von Hand sortieren.
Das bedeutet stundenlanges Hocken auf einer Plane, um die nassen Mineralien zu sichten, die potenziell «guten» in Schalen zu legen und die Eimer voller Ausschuss wegzuschmeissen.
Danach bringt Krüttli die vielversprechendsten Stücke ins Lagerhaus und legt sie in Trockengestelle. Dabei führt sie genau Buch darüber, was wo gefunden wurde. Die akribische Dokumentation erlaubt es den Forschenden, bei Bedarf an bestimmte Stellen zurückzukehren und weiter zu graben.
Auch wenn diese Tour keine besonderen Einzelstücke zutage gefördert hat, so ist der wissenschaftliche Wert des Gesamtfundes doch sehr gross.
«Wenn man sich vorstellt, dass man 50’000 dieser kleinen Bruchstücke hat, die alle analysiert werden können, dann ist das schon etwas», sagt Krüttli, während sie prüft, ob die Schalen bereits trocken genug sind, um sie in Behältern zu verstauen.
«Auch wenn die Fragmente unbedeutend aussehen, kann man aufgrund ihrer grossen Zahl viele Schlüsse ziehen.»
Wenn genügend Daten vorhanden sind, können die Forschenden ihre Funde in einen grösseren Zusammenhang stellen, sei es nun kulturell, historisch oder ökologisch. Jeder Splitter ist ein Puzzleteil, das die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet.
Während der Verkehr draussen vorbeirauscht, ist es dieser feste Glaube, der die Archäolog:innen durch die stundenlange, anstrengende Handarbeit trägt. Drei Tage später sind sie fertig, und die rund 300 Kilogramm geborgenen Artefakte werden abtransportiert. Kurze Zeit später lagern sie in Cornelissens Privatkeller in einem Berner Vorort.
Die Inspektion
Im August 2021 lädt mich Cornelissen zu sich nach Hause ein, wo er auch Artefakte aus früheren Forschungsprojekten lagert. Vor seiner Haustür erinnert ein Paar Holzschuhe an seine niederländischen Wurzeln. Drinnen stapeln sich – in stabilen Plastikkisten – allerlei Funde aus den vergangenen Jahren.
Es sind mögliche Verbindungen zu unseren Vorfahren, die zwischen 9500 und 5500 v. Chr. die Alpen durchstreiften. Cornelissen schüttet einige Handvoll Quarz, Kristall und Granit auf seinen Küchentisch. Ausgerüstet mit Pinzette, Licht, Lupe und Messgerät begutachtet er seine Ausbeute.
«Das ist ein gutes Stück – das kommt auf den Artefakthaufen», sagt er, während er die Gegenstände durchgeht. «Und das hier? Das wandert auf den ‹Vielleicht›-Haufen.»
Wie ein Juwelier, der einen Edelstein begutachtet, blickt Cornelissen blinzelnd auf ein Quarzfragment von der Grösse eines Zahns. «Vielleicht das Stück einer Klinge oder eines bohrerähnlichen Werkzeugs», murmelt er, während er den Gegenstand im Licht dreht. Er vermisst und beschriftet ihn, bevor er ihn in einem Plastikbeutel steckt.
Danach tippt er Daten in seinen Laptop ein. Es ist eines von Hunderten Stücken, die in seiner Tabellenkalkulation erfasst sind. Die Spalten sind voll mit Notizen zu Material, Form, Zustand und anderen Merkmalen der einzelnen Relikten. Die Funde selbst legt Cornelissen in eine Plastikbox, wie sie normalerweise zur Aufbewahrung von Angelködern verwendet wird.
Einige seiner besten Exemplare ruhen derweil auf einem schwarzen Blatt Papier. Ich erkenne künstliche Umrisse, die einst von geschickten Menschenhänden geformt worden sind. Während ich versuche, ihren Zweck zu begreifen, erinnere ich mich an etwas, das Krüttli mir sagte, als sie die Steine vor dem Lagerhaus wusch.
«Diese ursprünglichen Kristalle müssen sehr gross gewesen sein, damit die Menschen genügend Werkzeuge herstellen konnten. Das Wachstum von Kristallen dauert sehr lange. Diese Zeitspanne ist viel grösser als die Zeit, die zwischen der Anwesenheit dieser Jäger und unserer Ankunft vergangen ist», sagte sie. «Ich habe also dieses Bild vor Augen, wie sie hinter einem Felsen sitzen und uns auslachen, weil wir einfach ein bisschen zu spät gekommen sind.»
Von Jahrtausenden zu wenigen Monaten und Jahren: Die Suche der Archäolog:innen nach Überbleibseln dieser prähistorischen Kristalljäger wird vielleicht nie abgeschlossen sein.
Aber mit ihren detaillierten Tabellen und sorgfältig beschrifteten Artefakten ebnen sie den Weg für künftige Untersuchungen dieses noch wenig beleuchteten Abschnitts der Menschheitsgeschichte.
Wenn Gletscher schmelzen, tauchen archäologische Funde auf. Sie stammen aus allen Epochen, von der Steinzeit bis ins 20. Jahrhundert, und gewähren uns faszinierende Einblicke in die Vergangenheit.
Gegenstände aus organischen Materialien wie Leder, Felle, Textilien, Geweihe oder Holz überleben in Eis und Permafrost. Nach dem Auftauen zersetzen sie sich jedoch rasch.
Was gilt es zu beachten, wenn man auf solche Artefakte stösst? Behörden empfehlen, Fotos zu machen und diese den zuständigen Stellen vorzulegen – möglicherweise wird ein archäologisches Team zur Bergung des Materials geschickt.
Hierfür es wichtig, die Fundstelle auf einer Karte einzuzeichnen oder sich die Koordinaten zu notieren.
Expert:innen empfehlen zudemExterner Link, Funde nur aufzusammeln, wenn sie unmittelbar von Zerstörung bedroht sind oder wenn die Stelle nicht wiedergefunden werden kann.
Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer
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Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer
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