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Wissenschaft in der Schweiz: Frauen bringen Wandel voran

Warum Frauen in der Wissenschaft oft vergessen gehen

Woman scientist works on an interactive screen
Westend61 / Christian Vorhofer

Leitende Wissenschaftlerinnen sind an Schweizer Unis noch immer rar. Spezielle Stipendien sollen helfen, aber können sie den Wandel wirklich befördern?

Zu Beginn unseres Videocalls fällt eines sofort ins Auge: Der Schreibtisch von Ileana-Cristina Benea-Chelmus ist leer, ebenso die Tafel im Hintergrund – weder Skizzen noch Formeln oder Diagramme sind darauf zu sehen. Man erkennt: Da ist jemand neu eingezogen.

Seit dem 1. Januar 2022 ist Benea-Chelmus Professorin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL). Zuvor war sie an der Harvard-Universität in den USA beschäftigt. In ihrem neuen Amt muss sie sich erst noch einen Namen machen. Die Versuchsingenieurin erforscht die Wechselwirkung von Hochfrequenzwellen und Licht. Ihre Forschungen könnten dereinst bei der Entwicklung selbstfahrender Autos sowie Augmented-Reality-Geräten helfen.

Benea-Chelmus reiht sich ein in eine wachsende, aber noch kleine Zahl von Frauen an der EPFL School of Engineering. Derzeit arbeiten dort 21 Professorinnen und 68 Professoren.

Profile picture of Cristina Benea-Chelmus
Courtesy: Cristina Benea-Chelmus

Das Geschlechtergefälle in akademischen Führungspositionen ist auch auf nationaler Ebene offensichtlich. Laut dem jüngsten «She Figures»-Bericht der Europäischen Kommission beträgt der Frauenanteil unter den Professor:innen an den zwölf Schweizer Universitäten nur 24%. Dieser Prozentsatz liegt unter dem Medianwert der 27 EU-Mitgliedstaaten (26%).

Der Gender-Gap betrifft alle Staaten und Disziplinen und ist vor allem auf ein Phänomen zurückzuführen, das als «Leaky Pipeline» bezeichnet wird: Die Zahl der Frauen, die den akademischen Bereich verlassen, ist höher als die der Männer, obwohl mehr Frauen einen Hochschulabschluss erlangen.

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In den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) ist der Unterschied besonders gross: Im Jahr 2020 waren gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) weniger als 20% der Professor:innen weiblich.

In Studien werden immer wieder kulturelle Stereotypen als einer der Gründe angeführt. MINT-Fächer gelten als Männerdomäne, was sie für Studentinnen von vornherein weniger attraktiv macht.

Sie habe sich mit ihrem Ingenieurstudium aber immer wohlgefühlt, sagt Benea-Chelmus. Das habe aber vor allem damit zu tun, dass auch ihre Eltern Ingenieure sind.

Kleine Fortschritte

Zumindest kleine Fortschritte werden erzielt. Offizielle Zahlen zeigen, dass aktuell mehr Frauen einen Doktortitel in Physik und Mathematik erlangen als noch vor ein paar Jahren. Und die Universitäten ernennen mehr  Professorinnen für MINT-Fächer als früher. Die ETH Zürich und die EPFL haben zwischen 2018 und 2020 im Durchschnitt 36%, beziehungsweise 33% Frauen eingestellt.

Um die Zahl der Professorinnen zu erhöhen und vor allem Frauen in der Wissenschaft zu halten, haben Forschungsinstitutionen und Stiftungen in der Schweiz und der EU weitere Massnahmen eingeführt: Dazu zählen spezielle Stipendien, Mentoring-Programm und Unterstützung bei der Kinderbetreuung.

Benea-Chelmus nahm zu Beginn ihrer Karriere an verschiedenen Mentoring-Programmen teil und bewarb sich 2020 für das PRIMA-Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds (SNF). Mit diesem Stipendium werden Frauen unterstützt, die grosses Potenzial haben, eine Professur zu erlangen. Erfolgreiche Stipendiatinnen erhalten bis zu 1,5 Millionen Schweizer Franken, die während fünf Jahren ihr Gehalt sowie die Kosten für ihre Projekte decken sollen.

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Das PRIMA-Stipendium biete ihr finanzielle Unabhängigkeit, sagt Benea-Chelmus. «Alle diese Massnahmen sind wichtig, aber das PRIMA-Stipendium war und ist ein entscheidender Schritt für meine Karriere. Es ermöglicht mir, Studierende und Post-Docs einzustellen, meine Forschung voranzutreiben und Ergebnisse zu liefern.»

Ganz in der Nähe der EPFL, an der Universität Genf, arbeitet die Assistenzprofessorin Camilla Jandus im Bereich Tumorimmunologie. Jandus erhielt 2017 das PRIMA-Stipendium und ist begeistert von den damit verbundenen Networking- und Mentoring-Möglichkeiten. Ein privater Coach gab ihr Einblicke in Personalführung, Laboraufbau und Einstellungsgespräche.»Wenn man Professorin wird, ist man nicht mehr nur als Postdoktorandin und somit für die eigene Arbeit verantwortlich. Man muss eine Gruppe führen», sagt Jandus. Als Mutter von drei Kindern ist sie davon überzeugt, dass für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine gute Organisation entscheidend ist.

Jandus warnt jedoch vor den möglichen Nachteilen des Programms. Die Hochschule, die eine PRIMA-Stipendiatin aufnimmt, ist nicht verpflichtet, diese nach fünf Jahren einzustellen. Ausserdem werden die etablierteren Stipendien des SNF oder des Europäischen Forschungsrats oft als höherwertig angesehen.»Angesichts des immer noch geringen Bekanntheitsgrads des Förderprogramms kann es vorkommen, dass Stipendiatinnen als Nachwuchs-Kräfte betrachtet werden und in den Entscheidungskommissionen nicht vertreten sind», sagt sie.  

Und so lassen viele Frauen die akademische Welt eher früher als später hinter sich. In Erhebungen gaben Befragte vor allem drei Gründe an: Probleme bei der Vereinbarkeit von Familie und akademischem Leben, Mangel an weiblichen Vorbildern und Netzwerken sowie geschlechtsspezifische Verzerrungen bei Einstellungs- und Beförderungsverfahren. Die Schweiz leidet zudem unter spezifischen strukturellen Problemen: Kinderbetreuungseinrichtungen sind rar und im Vergleich zu anderen europäischen Staaten sehr teuer. Nicht zuletzt bietet die Industrie mit gut bezahlten Arbeitsplätzen eine attraktive Alternative.

Vorurteile bekämpfen 

Manchmal reichen Stipendien allein nicht aus, um mehr Frauen in die Wissenschaft zu bringen. Deshalb gründete Ursula Keller, die 1993 erste Physik-Professorin an der ETH Zürich wurde, das ETH Women Professor Forum (WPF).

Ihr Ziel ist es, Barrieren abzubauen, Networking-Optionen zu bieten und Wissenschaftlerinnen zu Vorbildern zu machen – ein wichtiger Faktor, um Nachwuchs-Forscherinnen zu motivieren. Über 80% der Professorinnen an der ETH Zürich und der EPFL sind WPF-Mitgliederinnen und nehmen regelmässig an Veranstaltungen des Forums teil.

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In einer Umfrage von 2018 beklagten sich viele der Teilnehmerinnen über eine unzureichende Vertretung von Frauen in höheren Uni-Positionen, ein wenig unterstützendes Arbeitsumfeld und unbewusste Vorurteile bei Anstellungs- und Beförderungsverfahren. Seitdem hat die ETH Schulungen zum Gender Bias durchgeführt. Die EPFL wiederum setzte eine Kommission ein, die sich mit dem Thema befasst und seither Empfehlungen abgibt.

Deren Leiterin Rizlan Bernier-Latmani erklärte damals, dass Frauen «unter Vorurteilen leiden, weil sie nicht dem Stereotyp eines Professors entsprechen». «Indem man die Zahl der Professorinnen erhöht, können Vorurteile schneller beseitigt werden, weil Frauen keine Ausnahme mehr sind», so Bernier-Latmani.

Kulturwandel ist nötig

Keller ist jedoch der Meinung, dass mehr getan werden muss, um Frauen in den MINT-Fächern zu fördern, insbesondere auf Ebene der Spitzenprofessuren, wo die Geschlechter-Kluft am grössten ist. In einem jüngst veröffentlichten Schreiben forderte Keller zusätzliche Kontrollmassnahmen und mehr Transparenz bei der Mittelzuweisung und Entscheidungsfindung.

«Die derzeitige Kultur mit informellen, meist von Männern dominierten Machtnetzwerken mit inhärenten geschlechtsspezifischen Vorurteilen sowie begrenzter Rechenschaftspflicht und Transparenz bei Entscheidungen und der Verteilung von Ressourcen wirkt sich negativ aus und hält die nächste Generation davon ab, Führungspositionen zu übernehmen», schrieb sie.

Ab 2022 ist der so genannte Gender Equality Plan (GEP) für Hochschulen und Forschungseinrichtungen in den EU-Mitgliedstaaten und assoziierten Ländern, die am Horizon-Programm teilnehmen, obligatorisch. Die Schweiz verlor aber ihren Horizon Europe-Status, als die Rahmenverhandlungen mit der EU scheiterten. Rund 95% der Schweizer Hochschulen stellen auf ihren Websites detaillierte Gleichstellungsstrategien vor. Zu den Massnahmen gehören Gender-Monitoring, Beratung, Workshops, Mentoring und Networking.

In der Schweiz gibt es eine Reihe von Förderungsstipendien für Frauen, die hauptsächlich vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) vergeben werden. Der «Flexibility grant» hilft Doktorandinnen und Postdoktorandinnen mit Kindern, externe Kinderbetreuungskosten oder Lohnkosten für Betreuungspersonal zu decken. Der «Gender equality grant» bietet jungen Forscherinnen 1000 Franken pro Projektjahr, die für Mentoring, Coaching, Kurse, Konferenzen und Workshops verwendet werden können.

Das 2019 lancierte Programm SPIRIT fördert die kollaborative, internationale Forschung mit Fokus auf Wissenschaftlerinnen und geschlechtsspezifische Forschungsfragen. Die Fördersumme reicht von 50’000 bis 500’000 Franken über einen Zeitraum von zwei bis vier Jahren. Das 2017 lancierte PRIMA-Stipendium unterstützt Frauen mit einem hohen Potenzial für eine Professur. Erfolgreiche Stipendiatinnen profitieren von bis zu 1,5 Millionen Franken, die ihren Lohn und Projektkosten für fünf Jahre decken.

Schliesslich gibt es das H.I.T.-Programm (High Potential University Leaders Identity & Skills Training), eine Zusammenarbeit von zehn kantonalen Universitäten und den beiden Eidgenössischen Technischen Hochschulen (ETH): Ausgewählte Professorinnen erhalten ein vielseitiges Coaching, das sie auf Führungspositionen im akademischen Bereich vorbereiten und ihnen bei der Entwicklung von Gleichstellungs- und Diversitätskompetenzen helfen soll.

Für die von SWI swissinfo.ch kontaktierten Personen scheint ein kultureller Wandel der Schlüsselfaktor zu sein. «Eine Parallelwelt von Frauen und Männern wird die Probleme nicht lösen. Langfristig sollten die Männer in die Diskussionen einbezogen werden», sagt Jandus.

Benea-Chelmus befindet sich am Anfang ihres akademischen Weges. In den nächsten Wochen wird sich ihr Büro an der EPFL füllen, sie wird ein Labor einrichten und Doktorand:innen einstellen. Sie habe bislang ein hohes Mass an Unabhängigkeit genossen, sagt sie.

«Es war wirklich wichtig, mich selbst zu testen, Kooperationen zu initiieren und zu beweisen, dass ich es kann. Damals dachte ich, dass diese Arbeit wirklich Spass machen kann – und das denke ich noch immer», sagt sie. Sie betont, dass Diversität wichtig sei. «Es braucht verschiedene Menschen aus allen Gesellschaftsschichten. Davon kann die Wissenschaft nur profitieren.»

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