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Schweizer Unternehmer Herman Gyr ergründet in Kalifornien das menschliche Potenzial

Illustration Herman Gyr
Illustration: Helen James / SWI swissinfo.ch

Während 50 Jahren in den USA hat der St. Galler Psychologe und Berater Herman Gyr nie den Glauben an den menschlichen Einfallsreichtum, die Lernfähigkeit und die Anpassungsfähigkeit an noch so widrige Umstände verloren. Und das, obwohl ihn jetzt der Klimawandel am meisten beschäftigt.

“Siehst Du den Baum? Normalerweise sollte er nicht so wachsen. Er hat keinen zentralen Stamm.” Unter den Baumkronen, die sein Haus in Palo Alto im Silicon Valley umgeben, zeigt mir Herman Gyr eine uralte Eiche, deren Äste seltsam aus dem Boden ragen wie ein riesiger Strauss, den eine riesige Hand gepflanzt hat.

“Die Ohlone-Indianer haben sie so geformt. Das bedeutet, dass selbst ein Volk, das im Einklang mit der Natur lebte, ihr seinen Stempel aufgedrückt hat.”

Das Silicon Valley und die Schweiz zählen zu den innovativsten Regionen der Welt. Warum eigentlich? Was trennt sie und was eint sie? Was können sie voneinander lernen? In dieser Serie berichten wir über das Silicon Valley aus der Sicht von Schweizer:innen, die seine Verlockungen, Versprechungen und Gegensätze hautnah erleben.

Gyr, Psychologe, Unternehmer und internationaler Berater, ist sehr umgänglich. Man hat mir gesagt, dass es in der Bay Area von San Francisco extrem einfach sei, mit Menschen in Kontakt zu kommen, unabhängig von ihrem Rang oder ihrer Bedeutung.

Die Kleidung verrät nicht, ob man es mit einem Angestellten oder einem Unternehmer wie Gyr zu tun hat. Der Ausdruck “weiser alter Mann” ist ein Klischee, aber es passt gut zu ihm.

Dem Ruf der Weite gefolgt

“Ich muss sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, als mein Grossvater mit mir einen Film über einen Roadtrip von Nordalaska nach Südargentinien geschaut hat”, erzählt der 70-Jährige mit der schlanken Gestalt und den leuchtenden Augen.

“Das hat mich umgehauen. Ich sah diese Ozeane, diese riesigen Länder, und plötzlich kam mir die Schweiz so klein vor.”

Als er mit 18 Jahren vom American Field ServiceExterner Link hörte, einer NGO für interkulturelle Bildung, ging er kurzerhand für ein Jahr an eine High School in Dallas, Texas.

“Es war einfach aussergewöhnlich, ich spielte Theater, Fussball und drehte Filme für das lokale Fernsehen. Es waren die späten Sechzigerjahre und der Vietnamkrieg. Die Friedensbewegung war unter den Jugendlichen sehr stark – auch in Texas”, erinnert sich Gyr. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz fühlte er sich “noch fremder”.

Nach zwei Jahren Psychologiestudium an der Universität Zürich ergriff er die erstbeste Gelegenheit, den Atlantik zu überqueren und in den USA das “fantastische Gefühl der Freiheit” wiederzufinden. Dank eines Stipendiums konnte er sein Studium in Ann Arbor, Michigan, fortsetzen.

Natur im Silicon Valley
Die Weite, die Natur, auch wenn sie teilweise vom Menschen gezähmt wurde (hier in Mountain View, Silicon Valley): Für Herman Gyr ist das einer der Reize Amerikas. swissinfo.ch

Dann ging er an die Westküste, wo er Lisa Friedman kennenlernte, seine spätere Frau und Lebensgefährtin. In San Francisco schlossen beide ihre Doktorarbeiten in Psychologie ab.

Gyrs Dissertation basierte auf einem Projekt des Logistikzentrums der US-Armee, bei dem es darum ging, “wie man in einem stark hierarchisch geprägten System Kreisläufe der Zusammenarbeit schaffen kann”, fasst er zusammen.

Er wechselte von der klinischen Psychologie zur Organisationspsychologie, die er bis jetzt nicht mehr verlassen hat, auch wenn er diese heute in einem ganz anderen Rahmen ausübt.

“In der Therapie geht es meistens um die Vergangenheit. Mir geht es darum, mit den Menschen, mit denen ich arbeite, eine Zukunft zu erfinden”, fasst Gyr zusammen, der weit über das Silicon Valley hinaus zu einem viel beachteten Unternehmensberater geworden ist.

Er ist Mitbegründer der Enterprise Development GroupExterner Link (EDG), die Unternehmerinnen und Unternehmer in den Bereichen Design, Strategie, Organisation, Entwicklung und Innovation – zunehmend auch im Klimabereich – berät und schult.

Die Firma hat eine Niederlassung in Deutschland und eine in der Schweiz, wo der Chef und sein Team mit Dutzenden von Unternehmen zusammengearbeitet haben.

In der berühmten “Garage” von EDG in Palo Alto, deren Dach mit Solarzellen bedeckt ist, hat er die Führungspersonen zahlreicher Schweizer Unternehmen wie Swisscom, Post oder Swiss zu Schulungsworkshops empfangen.

Herman Gyr
Gyr beim Interview im Konferenzraum seiner “Garage”. swissinfo.ch

Eine einzigartige Art der Finanzierung

Was kann die Schweiz, die stolz darauf ist, regelmässig zu den innovativsten Ländern der Welt gezählt zu werden, von den Methoden des Silicon Valley lernen?

Er lobt die “grossartige Arbeit”, die Swissnex, das Schweizer Wissenschaftskonsulat in San Francisco, bei der Vernetzung leistet.

“Die Herausforderung für die Schweiz ist ihre Grösse. Sie ist ein sehr kleines Land, und gerade in der Technologie muss man sehr gross denken”, sagt Gyr.

Zwar wurde das Unternehmen Logitec vor 40 Jahren auf dem Campus der Eidgenössischen Technischen Hochschule EPFL in Lausanne gegründet, doch schon im zweiten Jahr verlagerte die Firma für Computerzubehör ihre Entwicklungsaktivitäten ins Silicon Valley.

Und genau zwischen der Bucht von San Francisco und der Pazifikküste sind Apple, Google, Facebook, Tesla, HP, Netflix oder Intel entstanden.

Ist es eine Frage der Finanzierungsmöglichkeiten? In Kalifornien wurden bis 2022 um die 92 Milliarden Dollar Risikokapital in Jungunternehmen investiert, in der Schweiz waren es vier Milliarden Dollar – die Zahlen sprechen für sich.

Für Gyr liegt der Fokus aber woanders: “Hier im Silicon Valley zählt nicht nur das Geld, sondern auch die Art und Weise, wie man an Geld kommt. Es gibt einen Prozess, eine Sprache, die es ermöglicht, die eigene Idee mit dem verfügbaren Geld zu verbinden.”

Der Legende nach lieh sich Steve Jobs 1976 von seiner Mutter 1000 Dollar, um zusammen mit seinem Kumpel Steve Wozniak Apple zu gründen.

Ein Jahr zuvor soll Bill Gates die ersten 1000 Dollar für Microsoft ebenfalls von seiner Mutter erhalten haben. Und 1994 erhielt Jeff Bezos von Familie und Freunden einen Scheck über 300’000 Dollar, um Amazon zu gründen.

Risikokapital kommt erst später in mehreren Finanzierungsrunden zum Einsatz, die immer grösser werden, je mehr ein Startup sein Potenzial unter Beweis gestellt hat.

In Silicon Valley ist das anders: “Alles, was nicht funktioniert, scheidet frühzeitig aus”, sagt Gyr – oft vom Unternehmen selbst veranlasst, weil ihm der einzigartige Prozess der Finanzierung und Unterstützung im Silicon Valley vor Augen geführt hat, dass eine Idee doch nicht so taugt, wie es zuvor den Anschein machte.

“Es ist eine sehr interessante Art der Wertschöpfung, ein ständiges Hin und Her zwischen Investorinnen und Innovatoren, welches das Risiko tief hält”, fasst er zusammen. Dieses System verhindert theoretisch, dass Millionen in etwas investiert werden, das nicht funktioniert.

Der Geist hat die Lampe verlassen

Und was ist nach PC, Internet, sozialen Netzwerken und Smartphone das “nächste grosse Ding”? Für Herman Gyr steht fest: “Klimatechnologien sind der Bereich, der in den nächsten Jahren die meisten Innovationen hervorbringen und die meisten Investitionen anziehen wird. Allerdings würde er sie eher als ‘das zweite grosse Ding’ bezeichnen. Denn das erste ist bereits da: die Künstliche Intelligenz.”

Auf seinem Mobiltelefon zeigt er mir eine App, die nicht nur Sprachen übersetzt, sondern auch die Stimme der sprechenden Person klont und die Lippenbewegungen an die andere Sprache anpasst.

So können Sie sich selbst sehen, wie Sie etwas auf Französisch sagen und dann das Gleiche auf Spanisch, mit Ihrer eigenen Stimme und der nahezu perfekten Illusion, dass Sie diese Sprache tatsächlich beherrschen.

“Siehst Du, der Geist hat die Lampe verlassen. Die KI ist unter uns. Ich habe jeden Tag mit ihr zu tun. Eigentlich ist sie schon lange hier und wird nicht mehr weggehen.”

Zum Guten oder zum Schlechten? Der alte weise Mann will sich nicht festlegen. Das liege einfach in der Natur des Menschen, in seinem Drang, sich technologisch immer weiterzuentwickeln.

“Wir haben die Technik immer genutzt, um die Menschheit auf die nächste Stufe ihres Potenzials zu bringen. Das begann mit der Landwirtschaft, die zunächst nichts anderes war als die Ingenieurskunst des Bodens. Dann kamen die Maschinen und alles andere dazu”… bis hin zur Klimaerwärmung.

Eisbär auf einer Scholle
“Das Eis wird verschwinden”, warnt Herman Gyr. “Und auch ein Stopp aller CO2-Emissionen wird daran nichts ändern.” Copyright 2017 The Associated Press. All Rights Reserved.

Zurück zur Natur

“Die Klimarealität trifft uns viel schneller als erwartet”, sagt Gyr. “Und das Problem ist, dass wir immer noch träumen. Wir denken, wir müssten die Emissionen einfach stoppen. Natürlich müssen wir sie stoppen, aber das wird leider nichts an der heutigen Realität ändern.”

Und diese Realität ist, dass sich nicht nur die Atmosphäre erwärmt, sondern auch die Ozeane, und zwar bis in die Tiefe. Das geht so weit, dass das Eis an den Polen heute nicht nur an der Oberfläche schmilzt, sondern auch von unten her.

“Es ist gelaufen. Das Eis wird verschwinden. Und warum ist das so? Weil wir das seit 150, 200, 250 Jahren machen. Wir haben unser Leben industrialisiert, wir haben das ganze CO2 in die Atmosphäre rausgeblasen, und es wird dort für Hunderte von Jahren bleiben – ganz zu schweigen von all den anderen Schadstoffen.”

Die Menschheit müsse deshalb “ganz andere Ansätze finden, um den Schaden wieder gutzumachen, den sie angerichtet hat”, so Gyr.

Dazu gehöre auch, das Tabu des “Wachstums um jeden Preis” zu brechen. Denn: “Auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen können wir nicht weiter wachsen.”

Aber auch das wird nicht reichen. Soll man auf noch mehr Technologie setzen – wie die Schweizer Firma Climeworks, die zusammen mit einem isländischen Unternehmen in der Nähe von Reykjavik eine Anlage betreibt, die der Atmosphäre jährlich bis zu 3600 Tonnen CO2 entziehen kann?

“Das ist wie ein Sandkorn am Strand”, sagt Gyr, der eher an naturnahe Methoden glaubt: “Der beste Weg, CO2 zu binden, ist, die Pflanzen arbeiten zu lassen.”

Er erwähnt dabei namentlich die Pflanzenkohle-TechnologieExterner Link, bei der Pflanzen auf natürliche Weise CO2 aufnehmen und diese Pflanzen dann durch Pyrolyse “verbrannt” werden – eine chemische Umwandlung unter Ausschluss von Sauerstoff bei über 400°C. Dabei entsteht eine Art inerte Kohle, die nicht verbrannt wird, sondern dauerhaft im Boden gelagert werden kann.

Noch einmal die Natur. Aber von Menschenhand geformt. Wie die alte Eiche der Ohlone-Indianer.

Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

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