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“Die Politik zeigt zu wenig Mut und Transparenz”

Rolf Schweiger, FDP-Präsident, im Gespräch mit swissinfo. swissinfo.ch

Führungskrisen, Flügelkämpfe, Wählerverluste und Abstimmungs-Niederlagen: Die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) will mit Reformen aus der Krise.

Präsident Rolf Schweiger – gesellschaftspolitisch liberal – sagt im swissinfo-Gespräch, ein Umdenken im Sozialbereich sei unumgänglich.

swissinfo: Der Abstimmungs-Sonntag endete für Bundesrat und Parlament mit einer beispiellosen Niederlage. Was läuft falsch?

Rolf Schweiger: Ich habe den Eindruck, dass zwischen Bundesrat und Parlament, aber auch zwischen Politik und Bevölkerung, ein Graben entstanden ist. Die Vertrauenswürdigkeit der Politik hat gelitten. Das Volk sagt in dieser Stimmung zu allem sicherheitshalber Nein.

swissinfo: Wo liegt die Ursache für den Vertrauensschwund?

R.S.: Es sind Probleme entstanden, welche die Bevölkerung spürt. Die Politik bringt weder den Mut, noch die Transparenz auf, dem Volk zu sagen, wie es um unsere Situation wirklich steht.

Meines Erachtens besteht in weiten Kreisen ein grosses Bedürfnis, einmal kompetent gesagt zu erhalten, wie unsere Probleme aussehen. Es geht vorläufig nicht einmal um konkrete Lösungen, sondern darum, endlich einmal zu wissen, wie unsere Zukunft in verschiedenen Bereichen aussieht.

swissinfo: Sparen ist ein freisinniges Kernthema. Ihr Sozialminister Pascal Couchepin will das AHV-Alter auf 67 heraufsetzen. Können Sie nachvollziehen, dass viele Leute damit nicht einverstanden sind?

R.S.: Nur das Rentenalter 67 zu erwähnen, ist von der Sache und von der Kommunikation her kaum richtig. Man muss sagen, dass eine Fülle verschiedener Massnahmen notwendig sind, um die AHV wieder ins Lot zu bringen.

Die Mentalität ist immer noch diejenige einer gewissen Gemütlichkeit. Es muss das Bewusstsein geschaffen werden, dass bei uns auch die Sozialwerke Reformen nötig haben.

In Deutschland hat man geglaubt, man könne durch Nichtstun die Probleme aussitzen. Eine vergleichbare Situation möchte ich der Schweiz ersparen.

swissinfo: Sie orten fehlenden Reformwillen. Wo müssen die Reformen ansetzen?

R.S.: Allein schon von der finanziellen Grössenordnung her müssen die Reformen in erster Linie im ganzen Sozialbereich ansetzen. Wir müssen wieder zu realisieren beginnen, dass auch hier ein Umdenken möglich sein kann.

Ich glaube – und das mag jetzt völlig unfreisinnig tönen – dass man wieder einen Schwerpunkt setzen muss, indem man die tatsächlich Bedürftigen prioritär unterstützt und dass jene, die es nicht unbedingt nötig haben, in Zukunft gewisse Opfer bringen müssen.

swissinfo: Die Schweiz hat seit Jahren auch ein Problem mit dem Wirtschafts-Wachstum. Wie wollen sie dieses lösen?

R.S.: Der Wettbewerb muss besser spielen. Unser Problem ist, dass in der Binnenwirtschaft Strukturen, Regulierungs-Dichten und auch Denkweisen vorhanden sind, die uns gegenüber dem Ausland konkurrenzunfähig machen.

Erstaunlich ist, dass die Exportindustrie optimal strukturiert ist und die Globalisierung optimal bewältigt. Aber das Vorbild der Exportwirtschaft wird von der Binnenwirtschaft überhaupt nicht übernommen.

Noch wichtiger ist die Deregulierung. Wir Schweizer lassen der Freiheit von Unternehmungen sehr wenig Spielraum. Hier muss radikal abgebaut werden.

swissinfo: Nicht wettbewerbskonforme Denkweisen in der Binnenwirtschaft: Fürchten Sie keine Probleme mit Ihren Wählern?

R.S.: Das ist mir bekannt, und ich habe von allem Anfang an gesagt, dass es auch meine Aufgabe ist, als Parteipräsident Dinge zu sagen, die im Moment unangenehm, aber für die langfristige Entwicklung unseres Staates unabdingbar sind.

Ich glaube, dass unser Volk wieder die Bereitschaft haben wird, sich mit unangenehmen Dingen auseinanderzusetzen, um später nicht mit grösseren Schwierigkeiten leben zu müssen.

swissinfo: Die Politik wird zunehmend von einfachen Lösungen für komplizierte Probleme geprägt. Wie wollen Sie Ihre Botschaft in einem staatstragenden Sinn kommunizieren?

R.S.: Erstens ist es für den Freisinn unmöglich, das Dilemma – nämlich die Verweigerungshaltung, die Probleme wirklich anzugehen – allein zu lösen.

Es ist mir ein Anliegen, die Parteien zusammenzubringen und im Sinne einer Analyse die Tatsachen – wenn auch in einer gewissen Bandbreite – klar auf den Tisch zu legen. Wenn gewisse Parteien weiterhin nur auf ihre Marktanteile schauen, dann gibt es keine Reformen.

Selbstverständlich ist auch innerparteiliche Kommunikation notwendig. Und ich weigere mich so zu tun, als ob es nicht auch komplizierte Sachen geben könnte. Die Meinung, dass alles, sei es noch so kompliziert, einfach gesagt werden kann, ist falsch.

swissinfo: Mit dem Projekt “Avenir radical” wollen Sie ihrer Partei ein zukunftsgerichtetes Profil verleihen. Rechts-Freisinnige Exponenten reden bereits von sozialdemokratischen Ideen.

R.S.: Leute, die “Avenir radical” in eine sozialdemokratische Ecke drängen wollen, begreifen nicht, wie ich die Partei positionieren möchte.

Nämlich finanzpolitisch und steuerpolitisch so, dass man sie nach der herkömmlichen Theorie als rechts bezeichnen könnte. Aber es gibt andere Bereiche, in denen ich völlig modern bin. Und ich hoffe, dass hier auch die Partei modern wird.

Dazu gehört die ganz grosse Frage der Rolle der Frau und der Jugend im Staat. Und es ist leider so, dass es Leute gibt, die den Einsatz für die Emanzipation der Frauen bereits als sozialdemokratisch bezeichnen.

Aber ich will, dass diese modernen Gedanken in einer freisinnigen Partei Platz finden. Und diese moderne Bürgerlichkeit wird es sein, die uns von andern Parteien unterscheidet.

swissinfo: Reichen die Bilateralen II für die kommenden Jahre, oder muss die Schweiz ihr Verhältnis zu Europa demnächst grundsätzlich regeln?

R.S.: Das ist wohl die schwierigste Frage, die sich einem Schweizer stellt. Ich bin an sich ein begeisterter Anhänger von Europa. Trotzdem bin ich nicht dafür, dass die Schweiz der EU beitritt.

Wie erklärt sich dieser Widerspruch? Wenn die EU sagt, wir akzeptieren den Wunsch nach Souveränität und sind bereit zusammenzuarbeiten, ist das in Ordnung.

Wenn Europa jedoch sagt, wir sind zu einer solchen toleranten Haltung nicht bereit, dann wird es in der Tat schwierig für die Schweiz. Wenn dem so wäre, müsste wohl die Frage eines EU-Beitrittes neu diskutiert werden.

swissinfo: Was haben Sie grundsätzlich gegen einen EU-Beitritt? Sind das sachliche oder demokratische Überlegungen?

R.S.: Selbstverständlich spielen bei uns emotional-staatliche – auch staatspolitisch genannte – Überlegungen eine gewisse Rolle. Es gibt aber auch handfeste wirtschaftliche Interessen, beispielsweise den Beibehalt des Frankens.

Die EU entwickelt sich in eine Richtung, die man als etwas unflexibler und bürokratischer bezeichnen kann. Die Schweiz ist zwar heute unendlich viel weniger flexibel als die EU und ebenso bürokratisch.

Aber wir hätten die Chance, diesen Trend bei uns zu brechen. Wenn es uns gelänge, als flexibler Staat, als flexibles Wirtschaftsgebilde im Welthandel aktiv zu sein, hätten wir vor allem in den neuen Märkten wie Asien und USA Erfolg.

swissinfo: Wie wichtig sind die Auslandschweizer für Sie?

R.S.: Sehr wichtig, und zwar darum, weil wir Schweizer letztlich dahin tendieren, innenpolitisch zu denken.

Es wäre für jeden jungen Schweizer gut, einige Monate im Ausland zu verbringen, um dieses Überbetonen des Schweizerischen etwas zu relativieren.

Nur der Einbezug der internationalen Erfahrungen führt zu einem Staat, der auch im internationalen Kontext erfolgreich sein kann.

swissinfo-Interview: Andreas Keiser

Der 59-jährige Zuger Ständerat Rolf Schweiger steht seit einem Monat an der Spitze der FDP Schweiz. Finanzpolitisch gilt er als Hardliner, gesellschaftspolitisch als liberaler Vertreter seiner Partei.

Abweichler in der Partei will er “auch öffentlich an ihrer weitern Politkarriere hindern”. Noch vor seiner Wahl sagte er, er wolle kein bequemer Präsident sein.

Im Interview nimmt Schweiger Stellung zu den Abstimmungsniederlagen seiner Partei in der Steuer- und Sozialpolitik und plädiert für Reformen im Land, aber auch in seiner Partei.

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