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Hochwasserschutz wird für die Schweiz zur Priorität

überfluteter spielplatz im gegenlicht
Kinder vergnügen sich am Freitag, 16. Juli 2021, in Cudrefin im Kanton Waadt auf einem überfluteten Spielplatz, der vom Wasser des Neuenburgersees umspült wurde. Keystone

Der Klimawandel zwingt die Schweiz dazu, ihren Umgang mit Überschwemmungen in besiedeltem Gebiet zu überdenken. Gefährdete Gemeinden entwickeln innovative Lösungen, um die Risiken zu mildern.

Die älteren Einwohner:innen von Melchnau, einer 1500-Seelen-Gemeinde im Kanton Bern, werden das Jahr 1986 nie vergessen. Sie alle erlebten eine Art kollektives Trauma, als ihr Dorf vor bald 40 Jahren überflutet wurde.

Christian Eicher ist Tiefbauspezialist im Ruhestand und hat sich in seiner beruflichen Tätigkeit lange mit Hochwasserschutz und Entwässerung im besiedelten Raum befasst. Von ihm erfährt SWI swissinfo.ch, wie das Gebiet um Melchnau gemäss neuen historischen Unterlagen am 20. Juni 1986 von einem besonders heftigen Gewitter heimgesucht wurde.

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“Pro Stunde fielen in Melchnau mehr als 50 mm Niederschlag. Strassen, Häuser und Wiesen wurden überflutet, die Strassen teilweise aufgerissen. Die wichtigste Verkehrsachse durch das Dorf stand einen Meter unter Wasser”, erzählt Eicher.

1986 hätten die lokalen Behörden kaum Erfahrung mit der Entwicklung eines Hochwasserschutzkonzepts gehabt und auch nicht gewusst, was seine Umsetzung kosten würde. Dennoch wurde die Erstellung einer ersten Gefahrenkarte in Auftrag gegeben, die auch extrem hohe Abflussmengen einkalkulierte. “Allerdings fehlte es danach an weiteren Massnahmen zur Begrenzung oder Vermeidung von Überschwemmungen,“ so Eicher.

2007 und 2010 – also nur gerade 20 Jahre später – führten heftige Gewitter mit ausserordentlichen Niederschlagsmengen auf teilweise gesättigte Böden wiederum zu grossflächigen Wasserschäden und Verkehrsbehinderungen.

Eicher analysierte die beiden Hochwasser, dokumentierte sie mit Fotos und unterbreitete seine Erkenntnisse sowie erste Vorschläge zu möglichen Massnahmen den lokalen Behörden. Er zeigte auf, wie häufig und zerstörerisch die Überschwemmungen in den vergangenen 30 Jahren waren.

eine Brücke in Melchnau, intakt links und überschwemmt rechts
Melchnau 2019 / 1986. ©Mobiliar Lab for Natural Risks / Tiefbauamt Bern
links 2019 ohne wasser, rechts 2007 steht die strasse unter wasser
Melchnau 2019 / 2007 ©Mobiliar Lab for Natural Risks / Christian Eicher
links ohne, rechts mit hochwasser
Melchnau 2019 / 2010 ©Mobiliar Lab for Natural Risks / Christian Eicher

Aktuelle Strategien im Hochwasserschutz

Australien ist bekannt für seinen Hochwasserschutz und seine innovativen Massnahmen im Rahmen des Konzepts “Water Sensitive Urban Design”, das seit den 1980er-Jahren angewandt wird.

Dank dieser Massnahmen können Überschwemmungen eingedämmt und die Durchfeuchtung des Bodens mittels dezentraler Einrichtungen wie begrünten Dächern, durchlässigem Asphalt, angelegten Feuchtgebieten und Regenwassertanks erhöht werden.

Ähnliche Konzepte existieren auch in anderen Ländern, z.B. Das “Sustainable Urban Drainage System” in Grossbritannien, das “Low Impact Development” in den USA und das “Active, Beautiful and Clean Waters Programme” in Singapur.

Auch in Kopenhagen geht man beim Hochwasserschutz neue Wege. Der ins Leben gerufene SkybrudsplanExterner Link (skybrud = Wolkenbruch) soll die dänische Hauptstadt in eine Art Schwamm verwandeln: Öffentliche Plätze und Einrichtungen sollen so gestaltet werden, dass sie bei starken Niederschlägen grosse Wassermengen aufnehmen, speichern und wieder in den Wasserkreislauf abgeben. Kostenpunkt: ca. CHF 1,8 Mio.

Auch in China wenden 70 rasch wachsende StädteExterner Link das Schwammkonzept an, um den Hochwasserschutz zu gewährleisten und Überschwemmungsrisiken zu minimieren.

Stadtplanung hat Priorität

Im Vergleich zu diesen Ländern hinkt die Schweiz mit ihren Hochwasserschutzkonzepten hinterher. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) hat erst 2018 zusammen mit der Versicherungsbranche begonnen, eine landesweite Gefährdungskarte für den Oberflächenabfluss zu erarbeiten und zu veröffentlichen.

Gemäss Bundesbehörden hat die Schweiz zwischen 1970 und 2008 jährlich zwischen CHF 50 Mio. und 230 Mio. in den Hochwasserschutz investiert.

Seit 2008 wurden die Investitionen beträchtlich erhöht und bewegen sich zwischen CHF 250 und 400 Mio. Das reicht jedoch bei weitem nicht, um die Schäden durch seltene Extremereignisse abzuwenden.

Eine Studie des Bundesamts für Bevölkerungsschutz (BABS) aus dem Jahr 2020 zeigt, dass eine Überschwemmung aufgrund eines sehr seltenen Extremwetterereignisses Schäden von über CHF 10 Mrd. zur Folge haben könnte.

Grafik
Kai Reusser / swissinfo.ch

Die Schweiz hinkt einige Jahre hinterher. Zudem stellt der Klimawandel die Schweizer Stadtplanerinnen vor weitere Herausforderungen. „In der Schweiz hat man erst in den letzten Jahren erkannt, welch grosse Auswirkungen pluviale Überschwemmungen auf die Infrastruktur und die sozioökonomischen Aktivitäten haben können“, sagt João Leitão, Titularprofessor der ETH Zürich und Leiter der Gruppe Städtliche Überschwemmungen und Hydroinformatik bei der Eidgenössischen Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz (Eawag).

Obwohl die Schäden pro pluvialem Hochwasserereignis in der Regel geringer sind als bei fluvialen Hochwassern, können die kumulativen Auswirkungen von pluvialen Hochwassern aufgrund ihrer höheren Häufigkeit langfristig mit denen von fluvialen Hochwassern vergleichbar sein.

Wo kann das Wasser abfliessen?

Die Sachzwänge von Schweizer Städten und Siedlungen erhöhen das Risiko für Überschwemmungen in Wohngebieten zusätzlich. Die Bautätigkeit muss mit dem Bevölkerungswachstum und der Urbanisierung Schritt halten.

Gemäss WeltbankExterner Link hat sich die städtische Bevölkerung in der Schweiz von 1960 bis 2022 praktisch verdoppelt. Aktuell leben fast drei Viertel der Schweizer BevölkerungExterner Link in Städten und Agglomerationen, wo sich auch rund 80% der Arbeitsplätze befinden.

Aufgrund seiner Beobachtungen in Melchnau ist für Christian Eicher klar, dass die Zunahme undurchlässiger Oberflächen die Versickerung insgesamt reduziert. “Wenn Flächen, die früher der natürlichen Vegetation überlassen wurden, heute mit Zement und Asphalt versiegelt werden, kann das Wasser aus starken Niederschlägen nirgendwo hin”, so Eicher.

“Intensive Landwirtschaft, stärkere Mechanisierung und schwerere Geräte verdichten den Untergrund und reduzieren die wichtige Schwammfunktion durchlässiger Böden. Folge: Das Wasser fliesst früher und schneller ab und kann von den Flächen, die eigentlich den Regen aufnehmen sollten, nicht mehr gespeichert werden.”

Die zunehmende Konzentration von Bevölkerung und Infrastruktur auf den städtischen Raum erhöht die Risiken für finanzielle Schäden durch Überschwemmungen zusätzlich. Gemäss Robin Poëll, Sprecher des Bundesamts für Umwelt, leben rund 20% der Schweizer Bevölkerung aktuell an einem Ort, der aufgrund der Nähe eines Flusses oder Sees als Hochwassergefahrenzone gilt. Etwa 30% der Arbeitsplätze und ein Viertel der Schweizer Sachgüter (CHF 840 Mrd.) befinden sich in solchen Zonen.

Wenn man sich die Wahrscheinlichkeit von Extremwetterereignissen und das Schadenpotential vor Augen führt, “gehören Überschwemmungen heute zu den bedeutendsten Risiken in der Schweiz. Der Hochwasserschutz ist für die Schweiz eine wichtige Priorität geworden”, hält Poëll fest.

Zuständigkeit beim Hochwasserschutz: Es ist kompliziert

Die Schweiz investiert zwar laufend mehr in den Hochwasserschutz, doch aus wissenschaftlicher Sicht ist klar, dass die herkömmlichen Ansätze zum Schutz von Wohngebieten vor Überschwemmungen nicht mehr genügen. Deswegen werden im Kampf gegen Hochwasser im städtischen Raum neuartige Strategien entwickelt.

Das Mobiliar Lab für Naturrisiken hat 2018 die “Forschungsinitiative Hochwasserrisiko  – vom Verstehen zum Handeln” ins Leben gerufen. Ziel ist die Entwicklung eines Modellierungstools zur Hochwasserdynamik und eines Schadensimulators für Hochwasser.

Die beiden Tools warnen nicht nur vor drohenden Überschwemmungen, sondern auch vor ihren Folgen. Dazu gehören die Auswirkungen auf die Bevölkerung, Arbeitsplätze, Gebäude und Strassen vom Ansteigen bis zum Abklingen des Hochwassers.

“Wir haben nun zum ersten Mal die Möglichkeit, Hochwasserschäden für die ganze Schweiz bis in die einzelnen Quartiere buchstäblich sichtbar zu machen”, erklärt Andreas Zischg, Professor an der Universität Bern und Co-Leiter des Mobiliar Labs. 

“Wir können genau simulieren, wann wo wie viele Personen evakuiert werden müssten und wann wo welche Strassen unpassierbar werden”, so Zischg.

“Diese Informationen können dann von den örtlichen Einsatzstäben, Versicherungsunternehmen, Logistikanbietern und anderen Akteuren in der Risikokommunikation, in Schulungen und in der Ernstfallplanung verwendet werden.”

2019 haben Leitão und sein Team eine radikale, marktfähige Lösung entwickelt. Das Kanalisationssteuerungssystem CENTAUR kann einfach in vorhandene Entwässerungssysteme eingebaut werden und reduziert lokale Hochwasserrisiken in städtischen Gebieten.

Das System optimiert die Nutzung vorhandener Leitungskapazität: Ein ausgeklügelter Computer-Algorithmus steuert eingebaute Durchflussschleusen, die bei Überschwemmungsrisiko das Wasser in den Leitungen steuern und zurückhalten.

In Coimbra, Portugals viertgrösster Stadt sowie einigen Ortschaften in Grossbritannien läuft das System bereits, in der Schweiz bisher noch nirgends.

Die komplexe Verteilung der Zuständigkeiten für das städtische Hochwasserrisikomanagement in der Schweiz und die Koexistenz verschiedener Entwässerungssysteme in neueren und älteren Stadtteilen könnten die Schwierigkeit erklären, neue Lösungen für das Hochwasserrisikomanagement zu finden, sagt Leitão.

Der Föderalismus macht es komplizierter

Wie in anderen Ländern mit einer föderalistischen Struktur, z.B. Deutschland und Österreich, sind die Zuständigkeiten für den Hochwasserschutz auch in der Schweiz auf verschiedene Ebenen und Verwaltungsbereiche verteilt. Zudem tangiert ein innovatives Wassermanagement- und Wasserbausystem auch Bereiche wie Stadtplanung, Energieversorgung und Naturschutz.

Also bewegt sich im Hochwasserschutz der Schweiz nur langsam etwas – aber immerhin bewegt sich etwas: Einige Schweizer Städte haben bereits damit begonnen, das Konzept der Schwammstädte in neue Hochwasserschutzprojekte zu integrieren.

Leitão zitiert das Sponge-City-Projekt des VSA (Verband Schweizer Abwasser- und Gewässerschutzfachleute), das den Einsatz von blauer und grüner Infrastruktur in der Schweiz fördert, um Überschwemmungen und Regenwasserabfluss zu reduzieren und die Ökosystemleistungen zu verbessern.

Wenn Christian Eicher beim Dorfbach von Melchnau vorbeikommt, stellt er fest, dass sich etwas getan hat. 2021 hat die Gemeinde beschlossen, über CHF 4 Mio. in ein umfassendes Hochwasserschutzprojekt zu investieren. Dazu gehörte auch der Bau von vier Rückhaltebecken und die Verbreiterung des Bachlaufs, um ein Überfluten der Ufer zu vermeiden. “Lieber spät als nie”, meint Eicher.

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Ying Zhang

Welche Massnahmen wurden getroffen, um an Ihrem Wohnort Überschwemmungen vorzubeugen?

Haben Sie selbst schon eine Überschwemmung erlebt und betreibt Ihr Wohnland den Hochwasserschutz entschieden genug?

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Editiert von Virginie Mangin/gw, aus dem Englischen übertragen von Lorenz Mohler

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