Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

“Ich sah einen Zug kommen…”

„... und wollte mir darunter werfen.“ Dies ist der Schlüsselsatz in der Erzählung von Michael*, der es nicht schaffte, sich auf einen neue berufliche Situation einzustellen.

Michael wurde invalid und ist heute IV-Bezüger.

“IV-Rentner wegen psychischer Probleme? So etwas hätte ich mir vor einigen Jahren nicht im Traum vorgestellt…”

“30 Jahre lang habe ich als Angestellter in einem ehemaligen Bundesbetrieb gearbeitet. Alles funktionierte bestens. Und ich arbeitete gerne. Die Arbeit war einfach, aber dankbar und angenehm, vor allem wegen der guten freundschaftlichen Beziehungen zu meinen Kollegen.”

Im März 1995 kommt die Wende. Die Abteilung von Michael wird geschlossen. Einige Kollegen werden pensioniert, andere versetzt. Der damals 50-jährige Michael gehört dazu. Sein Arbeitsplatz verändert sich. Er muss jetzt in eine 40 Kilometer entfernte Stadt pendeln.

“Die Arbeit blieb mehr oder weniger gleich, aber das ganze Umfeld war neu. Die Arbeitszimmer, die Umgebung, die Gewohnheiten. Ich ging am Morgen mit einem Mittagessen im Sack los, nahm den Zug und hielt mich den ganzen Tag in einer anderen Stadt auf. Ganz allein.”

“Während des Tages war ich hyperaktiv. Nie hielt ich inne. Ich wollte immer irgendetwas tun. Und dies nur, um nicht nachzudenken. Selbst die Mauern meines alten Büros fehlten mir. Nach 30 Jahren am selben Arbeitsort schaffte ich die Umstellung nicht. Die Veränderung war zu gross.”

Schlaflosigkeit und mentales Durcheinander

Michael wirft nicht gleich das Handtuch.

“Zirka 3 Monate lang, bis zum 22. Mai, habe ich versucht, meine Pflicht zu erfüllen. Doch dann setzte die Schlaflosigkeit ein, ich schwitzte nachts und konnte nicht mehr schlucken. Panik ergriff mich, ich schlief praktisch nicht mehr.”

“In dieser Phase sind auch einige Horror-Ideen in meinem Kopf herumgespukt. Ich sah Züge heranfahren und frage mich, ob ich mich nicht darunter werfen sollte. Ich habe das meiner Frau erzählt. Mein Zustand war wirklich dramatisch.”

Es kommt zu ersten Kontakten mit der Psychiatrie. Michael bekommt einen Erholungsurlaub verschrieben. Bis Ende Sommer. Krankheit, Depression.

“Im Herbst begann ich wieder in meiner Heimatstadt zu arbeiten, aber mit unmöglichen Arbeitszeiten: einmal nachts, dann früh und wieder spät. Meine Situation hat sich immer weiter verschlechtert. Und doch habe ich unter medizinischer Kontrolle noch fast zwei Jahre weiter gearbeitet.”

Erneute Panik

“Ich begann meine Schicht beispielsweise um Mitternacht. Deshalb ging ich früh schlafen. Aber de facto konnte ich kein Auge zu tun. Ich kam am Morgen zurück und konnte wiederum nicht schlafen. Denn tagsüber dachte ich daran, dass ich nachts zur Arbeit zurück musste. So machte sich Panik bei mir breit”, erinnert sich Michael.

“Ich bekam es mit der Angst zu tun. Ich arbeitete, konnte aber nicht schlafen. Und deshalb wurde ich von Tabletten abhängig. Am 27.Oktober 1998 entschied der Psychiater, dass ich meine Berufstätigkeit auf 50 Prozent herunter schrauben musste und dass ich regelmässige Arbeitszeiten brauchte. Diese neue Situation war angenehm für mich. Erstmals fühlte ich mich wieder besser.”

“Der Betriebsarzt hat im März 1999 auf alle Fälle entschieden, dass ich keine 100-Prozent-Tätigkeit in meinem ursprünglichen Job mehr aufnehmen konnte. Daraufhin wurde die Frühpensionierung in die Wege geleitet. Begründung? Frühzeitige Invalidität.”

“In diesen Jahren war es für mich sehr hart. Jetzt geht es besser, aber meinen natürlichen Schlaf habe ich vollkommen verloren.”

Ohne die Hilfe von Tabletten schafft es Michael nicht mehr zu schlafen.

swissinfo, Marzio Pescia
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

*Name von der Redaktion geändert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft