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Breiter Konsens: Warum Suizidbeihilfe in der Schweiz normal ist

Yoshi reist in die Schweiz und stirbt

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Seine motorischen Funktionen verschlechterten sich aufgrund einer neurologischen Störung, Yoshi brauchte zwei Stöcke, um zu gehen. Ester Unterfinger/swissinfo.ch

Ein Mann aus Japan reist in die Schweiz, um zu sterben. Wir haben ihn bei seiner letzten Reise begleitet. Das ist seine Geschichte.

Es ist ein Mittwochnachmittag, leichter Nieselregen, nicht der übliche Sommeranfang. Yoshi* erscheint mit seinen Eltern in einem Rollstuhl am Flughafen Zürich. Mühselig, mit Hilfe von zwei Stöcken, hievt er seinen Körper aus dem Rollstuhl und steigt in ein Taxi. Die Fahrt geht nach Basel. “Ich bin so erleichtert, dass wir es geschafft haben.” Er blickt aus dem Autofenster auf die Landschaft.

Die Reise kam plötzlich. Erst vor zwei Wochen hat er sich zu diesem Flug entschieden. Vor drei Jahren hatte er von der Basler Sterbehilfeorganisation lifecircle die Bewilligung zum assistierten Suizid erhalten. Die Reise antreten wollte er aber erst nach 2022. Doch im Juni verschlimmerte sich sein Zustand. Immer schneller ging es bergab, wie eine Kugel, die den Hügel hinunterrollt und an Fahrt gewinnt. “Die Taubheit in meinem Hals und auf der Zunge wurden schlimmer. Ich konnte keine feste Nahrung mehr schlucken. Zudem hatte ich grössere Schwierigkeiten, meine Finger zu bewegen. Ich spürte, jetzt geht es um mein Leben.”

Assistierter Suizid ist in Japan illegal. Er muss das Flugzeug besteigen, bevor er seinen Körper nicht mehr bewegen kann, sonst ist es zu spät. Er muss auch seine Eltern überzeugen. Sie sollen ihn begleiten. Zunächst widersetzen sie sich seinem Plan.

Starke Schmerzen im Unterleib prägen die Reise, die über zwölf Stunden dauert, seine Letzte.

Als er im Hotel in Basel ankommt, legt er seinen Körper in einen Liegestuhl mit Rollen und Kopfstütze. Toilette und Schlaf. Sonst verbringt er die gesamte Zeit in dieser Liege in diesem Hotelzimmer in dieser fremden Stadt.

Schlaftabletten, Schmerzmittel und ein Mittel gegen Taubheitsgefühle, seine Alltagsbegleiter sind auch hier dabei. “Meine Rumpfmuskulatur hat sich deutlich verschlechtert. Meine inneren Organe haben weniger Halt. Sie berühren die Nerven, was starke Schmerzen verursacht”, erklärt Yoshi. In letzter Zeit könne er nie mehr als drei Stunden am Stück schlafen. Selbst mit Schlaftabletten wache er alle paar Stunden auf. Sobald deren Wirkung nachlässt, weckt ihn der Schmerz.

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Tabletten und Nahrungsergänzungsmittel Kaoru Uda / swissinfo.ch

Er kann nur noch Nahrungsergänzungsgetränke, Joghurt oder Brei essen. Es ist ihm keine Freude, Flüssigkeit zu schlürfen, um die notwendigen Kalorien und Nährstoffe zu erhalten, damit sein Körper am Laufen bleibt.

“Ich will nicht ohne Würde leben”

Japan. Yoshi ist ein Büroangestellter Anfang vierzig, alleinstehend. Er lebt mit seinen Eltern im Osten des Landes. Erste Anzeichen der Krankheit fallen ihm vor fünf Jahren auf. Er verspürt ständige Schmerzen in den Knien und kann sich nicht mehr auf die Zehen stellen. Bei der jährlichen Kontrolluntersuchung zeigt auch seine Leber ungewöhnliche Werte. Nach einer Untersuchung sagt ihm der Arzt, seine Muskeln seien “kaputt”. Die Diagnose lautet “Verdacht auf Motoneuronerkrankung”.

Motoneuronenerkrankung ist ein allgemeiner Begriff für Krankheiten, bei denen sich die Funktion der Motoneuronen verschlechtert. Die häufigste davon ist die amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Wenn die motorischen Neuronen beeinträchtigt sind, werden die Befehle des Gehirns nicht mehr weitergeleitet, und der Körper verliert allmählich die Fähigkeit, sich wie gewünscht zu bewegen. Schliesslich kommt es auch zu Atemproblemen und unweigerlich zum Tod. Es gibt keine Heilung. Yoshi erhielt keine endgültige ALS-Diagnose, aber ALS ähnliche Symptome traten allmählich an seinen Gliedmassen auf, an Händen, im Bauchraum bis hin zu Hals und Zunge.

Videos und Blogs von ALS-Patienten brachten ihn dazu, über seine eigene Zukunft nachzudenken. “Ich spreche Menschen, die ein Beatmungsgerät tragen, nicht ab, zu kämpfen”, sagt Yoshi, “aber ich möchte nicht ohne Würde leben.” Zwei Jahre später, im April 2018, nimmt er Kontakt zu lifecircle auf. Es dauert nicht lange, bis er grünes Licht erhält.

Ende Mai dieses Jahres kann er noch etwa 200 Meter mit Stöcken gehen. Er arbeitet weiterhin von zu Hause aus für die Firma, in der er seit 13 Jahren tätig ist. Er kann auch die hausgemachten Gerichte seiner Mutter am Esstisch geniessen. Bis sich sein Zustand plötzlich verschlechtert.

Für die Gesellschaft nicht von Nutzen

Basel. Yoshi spürt Stress. Er muss sich mit zwei Ärzten von lifecircle treffen. Auch wenn die Einwilligung zum assistierten Suizid bereits vorliegt, kann diese widerrufen werden, wenn die Ärzte feststellen, dass es dem Patienten an Urteilsvermögen mangelt oder er unter dem Einfluss einer Drittperson steht.

Es ist 9:30. Yoshi lehnt sich in seinem Rollstuhl zurück und starrt schweigend auf die Türe. Kurz darauf tritt die erste Ärztin ein. Ihr Name ist Erika Preisig. Yoshi beantwortet ihre Fragen zu seinem aktuellen Zustand und wie es zum Gedanken an Sterbehilfe gekommen sei. Er wählt seine Worte langsam und ruhig.

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Yoshi (rechts) unterschrieb die von Erika Preisig vorgelegte Einverständniserklärung zur Verschreibung eines tödlichen Medikaments. Kaoru Uda / swissinfo.ch

Beim zweiten Gespräch mit einem anderen Arzt kommt Yoshis Arbeit zur Sprache. “Sie haben Ihren Job bis kurz vor Ihrer Reise behalten?” fragt der Arzt mit einem überraschten Gesichtsausdruck. Yoshi sagt: “Es war sehr wichtig für mich, einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Aber meine Krankheit erlaubt mir das nicht mehr. Ich fühle keinen Wert mehr in mir.”

Die beiden Gespräche dauern über drei Stunden. “Aus medizinischer Sicht spricht nichts gegen Ihren assistierten Suizid.” Als der Arzt dies im zweiten Gespräch sagt, entspannt sich Yoshis nervöser Blick ein wenig. Sein assistierter Suizid ist für Samstag geplant. Heute ist Donnerstag. Er will seine restliche Zeit mit seinen Eltern verbringen.

Diesen erzählt er vom anstehenden Termin. Sie haben in einem separaten Raum gewartet. Seine Mutter fragt noch einmal. “Bist du sicher, dass du es dir nicht anders überlegen willst?”

Zu starke Schmerzen

Die Krankheit lässt Yoshi die Zeit nicht mehr. Am Abend spürt er ein dumpfes Unbehagen in seinem Unterleib. Das vertraute Signal aufkommender starker Schmerzen. Diesmal kommen sie aber in Wellen von noch nie erreichter Intensität. Er nimmt mehr Schlaftabletten als sonst, um Schlaf zu finden. Aber drei Stunden später wacht er wieder auf, mit höllischen Schmerzen. “Ich halte es nicht mehr aus.” Er ruft Erika Preisig an.

Freitag. Am Morgen entschuldigt er sich bei seinen Eltern. Dafür, dass er den Termin vorverlegen muss. Sie sind nicht mehr strikt dagegen.

Yoshi kann nicht mehr im Rollstuhl sitzen. “Ich muss meine Energie sparen.” Er hievt sich auf die Bettkante und platziert den Oberkörper rücklings aufs Bett. “So habe ich weniger Schmerzen.” Er wartet. Man wird ihm einen neuen Termin angeben.

“Ich habe weder einen Plan B noch einen Plan C”

Warum in die Schweiz?

“Weil ich in Würde sterben möchte. Atmen, Essen, Stuhlgang haben und Kommunizieren, das sind die Grundpfeiler des Lebens. Da ich das jetzt nicht mehr kann, treffe ich die richtige Entscheidung, das zu beenden.”

Die Familie sieht das anders. Seine Mutter fleht. “Ich möchte, dass du lebst, egal was passiert.” Aber das verkenne seinen Schmerz und seine Würde, sagt Yoshi. “Patienten wie ich wollen nicht, dass wir im Strudel des Leidens bleiben müssen. Wir wollen nicht, dass unsere eigenen Familien so grausam sind.”

Der assistierte Suizid sei auch gut für die Gesellschaft, meint er. “Wenn ein Patient mit einer unheilbaren Krankheit sterben will und sein Leben aufgeben kann, dann können enorme medizinische Ressourcen an jemand anderen gegeben werden. Für mich ist das ein sehr ethischer Akt.”

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Doch in vielen Gesellschaften sei Sterbehilfe nicht erlaubt, sinniert er. “Warum gilt die Entscheidung, ein Beatmungsgerät jemand anderem zuzuteilen, als akzeptabel? Der assistierte Suizid aber nicht?”

Er hofft, dass der assistierte Suizid für Patienten wie ihn dereinst legalisiert wird, “damit Patienten wie ich friedlich zu Hause sterben können”, sagt Yoshi.

Drei Stunden vor dem assistierten Suizid. Er zweifelt nicht. “Wenn ich eine heilbare Krankheit hätte, würde ich es vielleicht versuchen. Aber ich habe weder einen Plan B noch einen Plan C.”

Die letzten Worte

Es ist 13:45 Uhr am Freitagnachmittag, zwei Tage nach seiner Ankunft. Die Sonne lässt die Regentage zuvor wie eine Lüge erscheinen. Er und seine Eltern nehmen ein Taxi zur lifecircle-Einrichtung in der Nähe von Basel. Ärztin Preisig hat auf die Ankunft der Familie gewartet. Sie bringt sie in ein geräumiges Zimmer mit einem Einzelbett, einem grossen Tisch und einem Sofa. Alles ist in frühsommerliches Sonnenlicht getaucht.

Yoshi sitzt in seinem Rollstuhl am Tisch und unterschreibt ein Papier nach dem anderen, Antrag auf Sterbeurkunde, Einverständniserklärung zur Sterbehilfe und eines für die Einäscherung. Dann lächelt er. “Danke. Ich bin bereit.”

Um 14:45 Uhr zieht Yoshi seine Schuhe aus und legt sich auf das Bett. Ärztin Erika Preisig führt eine Nadel in Yoshi’s rechten Handrücken ein. Seine Mutter steht an seiner linken Seite und streichelt ihrem Sohn immer wieder zärtlich die Schulter.

Es ist Zeit, sich zu verabschieden. Der Vater sagt: “Danke, dass du all die Jahre mit uns gelebt hast. Du warst immer ein Schatz für uns. Viel Spass im Himmel. Wir werden bald da sein.” Er lächelt. Yoshi lächelt zurück. “Ich werde auf euch warten.”

Der Infusionsbeutel wird mit einer tödlichen Dosis Pentobarbital-Natrium gefüllt. Alles ist bereit.

Es ist genau 15 Uhr. Yoshi sagt: “Also, ich bin dann mal weg!” Ohne zu zögern, öffnet er mit dem Finger das Ventil der Infusion.

Das tödliche Medikament fliesst langsam durch die Kanüle in seinen Körper. Yoshi lacht: “Wirkt es? Ich spüre nichts”, sagt er mit kehliger Stimme, vielleicht um seine Nervosität zu verbergen.

Dreissig Sekunden später, vier kleine schnarchartige Atemzüge, seine letzten Geräusche.

Genau wie Preisig es erklärt hatte, fiel er ins Koma. Drei Minuten später legte die Ärztin ein Stethoskop auf Yoshis Brust und prüfte seine Pupillen. Sie sagte leise: “Ja, er ist gegangen.”

“Ohne Schmerzen?” fragte der Vater. Preisig legte ihre Hand sanft auf jene von Yoshi und sagte: “Ja, keine Schmerzen mehr.”

Die Hand war noch warm.

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