
Zwei Bücher über die Widersprüche Ägyptens und Tunesiens

Eine Graphic Novel über einen Kiosk in Kairo und ein Roman über eine Affäre in der tunesischen Bourgeoisie: Beide Bücher behandeln das Verhältnis von individueller Freiheit und kollektiven Normen. Die beiden Autorinnen sind derzeit zu Gast in der Schweiz.
(Keystone-SDA) Amira Ghenim ist Linguistin und Dozentin an der Universität von Sousse in Tunesien. Seit 2011 ist ihr die akademische Sprache der Beweisführung und der präzisen Argumentation zu eng geworden, erzählt sie im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA: «Mit dem Aufstieg des Fundamentalismus und den Bedrohungen unserer Freiheiten, insbesondere jene der Frauen, verspürte ich das Bedürfnis, anders zu schreiben.»
Ihr zweites Buch zeichnet den gesellschaftlichen Wandel Tunesiens im 20. Jahrhundert nach, halb historischer Roman (mit realen und fiktiven Figuren) und halb Familiensaga über vier Generationen. Die französische Übersetzung «Le désastre de la maison des notables» (2024) erhielt den Prix de la littérature arabe. Das 2021 erschienene arabische Original stand auf der Shortlist des renommierten Arabic Booker Prize. In der Schweiz ist das Buch auf französisch, englisch («A Calamitiy of Nobele Houses») und italienisch («La casa dei notabili») im Handel.
Zwischen Westen und eigener Tradition
Im Zentrum stehen zwei bedeutende Familien: die konservativen Naifers und die progressiven Rassaas sowie ihre Bediensteten. Ghenim ist von diesem grossbürgerlichen Milieu fasziniert, «weil es sich als Hüter der Werte, der Seriosität, des ‚guten Geschmacks‘ und der tunesischen Modernität versteht». Hier konzentrieren sich die tunesischen Widersprüche: Man möchte westlich sein, ohne die Tradition zu verlieren; liberal, ohne das Patriarchat aufzugeben; aufgeklärt und schaut dann doch weg, angesichts von Ungerechtigkeiten.
Als Akademikerin habe sie diese Spannungen in den gesellschaftlichen Diskursen lange Zeit beobachtet, als Romanautorin nutzt sie dieses Milieu als Laboratorium, in dem sich die Geschichte des Landes abspielt: «Hinter den ehrbaren Fassaden und den grossen Reden verbirgt sich oft ein intimes Desaster, eine stille Gewalt. Das wollte ich hinterfragen, nicht um zu urteilen, sondern um zu verstehen», so Ghenim.
Solche Grauzonen könne der wissenschaftliche Diskurs nicht immer erfassen: Schweigen, Angst, Scham, verletzte Erinnerung. Aber genau darum geht es: «Das, was wir heute erleben – die identitären, religiösen und sozialen Spannungen – ist die Fortsetzung dessen, was wir kollektiv verdrängt haben.» Diese Vergangenheit nutze sie, um die Gegenwart zu beleuchten oder ihre Sackgassen aufzudecken: «Ich glaube, dass wir ungelöste Altlasten in uns tragen: die Wunden des Kolonialismus, die Heuchelei der Moderne, die Angst vor der Freiheit.»
Tunesisches Paradoxon
So sind für Ghenim auch die jüngsten politischen Umwälzungen nur die Oberfläche dieser tieferliegenden Mentalitätsänderung, einem «tunesischen Paradoxon»: Die tunesische Gesellschaft verstehe sich zwar als modern, aufgeklärt und fortschrittlich, sei aber gleichzeitig den sehr konservativen familiären und mentalen Strukturen verhaftet.
Dieses Paradox beschäftigt auch die ägyptische Comiczeichnerin und Illustratorin Deena Mohammed. Sie kreierte mit 18 Jahren den halb satirisch, halb ernstgemeinten Webcomic «Qahera – the Superhero»: Hier bekämpft eine offensichtlich muslimische Superheldin Islam- und Frauenfeindlichkeit. Nach ihrem Studium gewann Mohammed mit ihrer ursprünglich selbst publizierten Graphic-Novel-Trilogie «Shubeik Lubeik» am Cairo Comix Festival den Best Graphic Novel Award und den Grand Prize. Seither wurde die Trilogie auf Arabisch publiziert und auf Englisch sowie in diverse weitere Sprachen übersetzt – 2025 nun auch auf Deutsch.
Individuelle Freiheit, kollektive Norm
In «Shubeik Lubeik. Dein Wunsch ist mir Befehl» sind Wünsche buchstäblich käuflich, aber nur die teuren erfüllen sich so, wie man es erwartet. Deena Mohammed erzählt von drei Menschen, die solche Wünsche an einem Kiosk in Kairo kaufen: Die Witwe Aziza kämpft gegen ungerechte Regeln und soziale Ungleichheit. Die privilegierte Studentin Nour leidet heimlich unter Depressionen und muss entscheiden, ob sie ihren Wunsch nutzen soll, um diese «zu heilen». Und Shokry ringt mit seinem Glauben, als er vor der Frage steht, wie er einem Freund helfen kann, der einen Wunsch nicht einsetzen will.
Die Auseinandersetzung mit individueller Freiheit und kollektiven Normen verbindet die beiden Autorinnen. Neben ihren Graphic Novels arbeitet Mohamed als freiberufliche Illustratorin, unter anderem bei Harassmap und am Center for Applied Human Rights, und setzt sich auch da für muslimische und feministische Werte ein. Ghenim sagt, sie wolle in ihren Büchern ein Tunesien zeigen, «das denkt, zweifelt, schafft und eine identitäre Abschottung ablehnt, ein anderes Tunesien als das der Zeitungen. Ein Tunesien, das liest, schreibt und diskutiert. Ein offenes Tunesien, das der Freiheit verpflichtet ist und in dem Frauen schon immer eine zentrale Rolle gespielt haben, auch wenn das unbequem ist».
«Rollenbilder und Klassenfragen» im Literaturhaus Basel: Amira Ghenim und Deena Mohamed sind am Freitag, 24. Oktober 2025 um 19.00 zu Gast.
Deena Mohamed gastiert ausserdem an der Universität St. Gallen (21.10.), in der Kornhaus Bibliothek Bern (22.10.) sowie an der Hochschule Luzern (23.10.).
Amira Ghenim gastiert an der Universität Bern (22.10.) und an der Universität Basel (23.10.).*
*Dieser Text von Philine Erni, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.