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Ein Fiasko für die Demokratie? Die Schweiz verrechnet sich um Milliarden

SP-Mitglieder verfolgen in einem Saal die Abstimmungsergebnisse, sie wirken bedrükt.
Die Gegner:innen der Reform, mit der das Rentenalter für Frauen im Jahr 2022 angehoben wurde, fordern nun eine Wiederholung der Abstimmung. Keystone / Peter Klaunzer

Die Schweizer Regierung hat sich in den letzten zehn Jahren mindestens dreimal in Fragen verrechnet, die den Wähler:innen wichtig sind. Politiker:innen warnen, das Vertrauen in eine der vertrauenswürdigsten Regierungen der Welt sei gefährdet.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hat am Dienstag eingeräumt, dass es sich bei der Prognose für die Ausgaben für die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) erheblich verschätzt hat.

Im Jahr 2033 dürften die jährlichen Auszahlungen um rund 4 Milliarden Franken (4,7 Milliarden Euro) und damit um rund 6 % niedriger ausfallen als ursprünglich angenommen.

Das ist einerseits eine gute Nachricht: Das staatlich verwaltete Versicherungssystem steht finanziell besser da als erwartet.

Eine Reihe von Unzulänglichkeiten

Doch der Fehler hat einen politischen Aufschrei ausgelöst. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund warnte vor einem Vertrauensverlust in die Zuverlässigkeit der offiziellen Renteninformationen.

Die Mitte-Rechts positionierte FDP nannte die Fehlkalkulation ein «Fiasko» und zeigte mit dem FingerExterner Link auf die zuständige Bundesrätin und ihren Vorgänger.

Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider (SP) ordnete ihrerseits am Dienstag eine Untersuchung über die Ursache des Fehlers an.

Die heftige Reaktion der Politik ist nicht nur eine Reaktion auf diesen konkreten Fehler. In den vergangenen zehn Jahren hat die Regierung mindestens drei Fehlkalkulationen in wichtigen politischen Fragen eingeräumt.

Erst im vergangenen Jahr hat das Statistische Bundesamt einen Programmierfehler gemacht, der dazu führte, dass die Stärke der politischen Parteien am Wahlsonntag falsch ausgewiesen wurde. Dadurch sah es so aus, als läge eine Partei vor einer anderen, was sich auf die Zusammensetzung des siebenköpfigen Bundesrats hätte auswirken können.

Im Jahr 2019 hatte die Regierung einen noch schwerwiegenderen Fehler einräumen müssen. So hatte sie 2016 im Vorfeld einer landesweiten Abstimmung über die Heiratsstrafe ausgerechnet, dass nur 80’000 Paare von dieser erhöhten Besteuerung verheirateter Paare betroffen sein. Später gab die Regierung bekannt, dass es sich tatsächlich um 454’000 Paare handelte.

In der Schweiz liegt das öffentliche Vertrauen in die Regierung im internationalen Vergleich auf einem sehr hohen Niveau, was zum Teil auf ihre lange Tradition der direkten Demokratie zurückzuführen ist.

Die Wähler:innen, die viermal im Jahr auf Bundesebene ihre Stimme abgeben, verlassen sich auf die Berechnungen der Regierung, die als Grundlage für Debatten und Entscheidungen in Abstimmungsangelegenheiten dienen.

Änderungen an solchen Prognosen könnten das Wahlergebnis verändern, weshalb Fehler fatal sind.

Im vergangenen März hat das Schweizer Stimmvolk nach heftiger Debatte eine zusätzliche AHV-Rente im Umfang einer Monatszahlung beschlossen.

Die Abstimmung über die «13. AHV-Rente» fand im Kontext der prognostizierten Ausgaben der AHV statt. Dass die neue Berechnung am Ergebnis etwas geändert hätte, ist eher unwahrscheinlich. Denn sie zeigt ja gerade, dass mehr Geld in der AHV vorhanden ist.

Abstimmung von 2022 in Frage gestellt

Was aber, wenn die Ergebnisse umgekehrt wären und die neue Berechnung ein Defizit ergeben hätte? Das hätte das Ergebnis verändern können.

Linke Parteien argumentieren bereits, dass der Fehler die Zustimmung der Wähler zu einer separaten Abstimmung über die Erhöhung des Rentenalters für Frauen im Jahr 2022 in Frage stellt.

Dass in der Schweiz Volksabstimmungen für ungültig erklärt werden, ist ungewöhnlich, aber nicht ausgeschlossen. Im Jahr 2019 hat das Bundesgericht die Abstimmung über die Heiratsstrafe wegen eines Rechenfehlers für ungültig erklärt.

Dass auch die Abstimmung über die 13. AHV-Rente die Kriterien für eine Aufhebung erfüllt, ist eher nicht zu erwarten.

Probleme mit Prognosen

Es bleibt abzuwarten, inwieweit das jüngste Rechendebakel das allgemeine Vertrauen in die Regierung beschädigt.

Hochrechnungen sind notorisch problematisch. Der Fehler bei der AHV ist auf zwei falsche Formeln im Programmcode zurückzuführen, der mehr als 70’000 Zeilen lang ist.

Aber auch ohne Rechenfehler gilt: Hochrechnungen sind komplex und mit Unschärfen verbunden. Die Berechnung des Finanzierungsbedarfs der AHV hängt nicht nur von der Zahl der Rentner:innen ab, sondern etwa auch von deren Lebenserwartung, dem bisher verdienten Lohn, dem Vermögen und dem Zivilstand.

Diese Faktoren sind angesichts des raschen demografischen Wandels, neuer medizinischer Entdeckungen und der Wirtschaft schwer vorauszusagen.

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Kommt hinzu, dass die Schweiz stärker in die Weltwirtschaft integriert und damit anfälliger für Krisen sei, sagt Sean Müller, Politologe mit Spezialisierung auf direkte Demokratie an der Universität Lausanne, gegenüber SWI swissinfo.ch.

«Prognosen sind natürlich schwierig, weil immer wieder unvorhergesehene Ereignisse eintreten», sagte er.

«Selbst ein Schiffsunglück im Suezkanal hat Auswirkungen auf die Preise im lokalen Supermarkt in der Schweiz.»

Auch der Föderalismus macht die Sache kompliziert. Jeder Kanton hat einen anderen Unternehmenssteuersatz, ein anderes Schulsystem und ein anderes Budget für die Infrastruktur.

«Fehler passieren jedem. Beunruhigend ist die absolute Überzeugung, mit der vermeintlich felsenfeste Zahlen prognostiziert werden, obwohl sie oft auf vielen Annahmen, Formeln und unzureichenden Daten beruhen», so Müller.

Er regt an, Prognosen deutlicher als solche zu kennzeichnen. Auch seien die Daten und Berechnungen immer zur Verfügung zu stellen, damit eine kritische Diskussion stattfinden kann.

Wichtig ist vor allem, dass «Fehler transparent kommuniziert werden und man versucht, daraus zu lernen», so Müller.

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Editiert von Balz Rigendinger/ts, aus dem Englischen übertragen von Marc Leutenegger

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