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Giorgio Fonio: Vom Kinderheim ins Bundeshaus

Junger Mann
Giorgio Fonio wird am 1. Juli 2024 40 Jahre alt. Thomas Kern / swissinfo.ch

Die Mitte bringt einen Tessiner Politiker mit ausgeprägtem sozialen Gespür nach Bern: Der bald 40-jährige Gewerkschafter Giorgio Fonio stellt den Menschen und die Familie in den Mittelpunkt und hat eine dramatische Familiengeschichte zu erzählen. Fonio bildet den Abschluss unserer Serie.

“Papa, was hast du heute gemacht?” – “Ich habe an den Bundesratswahlen teilgenommen!” Mit einer gewissen Rührung erzählt Giorgio Fonio von dem Telefongespräch, das er an jenem Mittwoch, 13. Dezember 2023, während seiner ersten Session als Nationalrat von Bern aus mit seinen Söhnen im Tessin führte.

Fonio, im Juli 40 Jahre alt, ist ein “Momò” [ein Bewohner des Mendrisiotto, Anm. d. Red.] durch und durch, aber auch Ehemann, Vater, Gewerkschafter und in seiner Freizeit Schiedsrichter. Er ist der neue Tessiner Nationalrat der Partei Die Mitte.

Der Gewerkschafter von Beruf empfängt uns im Sitzungszimmer der OCST (Christlich-soziale Organisation des Tessins) in Lugano, wenige Meter vom Corso Elvezia und den Strassenzügen entfernt, die den Tessiner Bundesräten Giovanni Battista Pioda und Stefano Franscini gewidmet sind. Ein prädestinierter Bundespolitiker also.

Im vergangenen Oktober zogen 56 neu gewählte Vertreterinnen und Vertreter ins nationale Parlament ein.

Die Schweizerische Volkspartei, die Mitte und die Sozialdemokratische Partei haben bei den eidgenössischen Wahlen 2023 am meisten zugelegt und stellen auch die meisten Neulinge im Parlament.

Die Grünen haben – als die grossen Verlierer der Wahlen – keine neuen Gesichter nach Bern schicken können. 

In dieser Serie porträtiert SWI swissinfo.ch neun Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die ihre ersten Schritte in der nationalen Politik machen. 

Bei seiner Arbeit entstand eher zufällig seine Liebe zur Politik. Wegen Wartungsarbeiten musste das Institut für einige Zeit in ein anderes Gebäude umziehen, es lag direkt neben dem Sitz der Zeitung Il Dovere.

“Ich las die Zeitung mit Leidenschaft. Ich ging hin und holte mir ein Exemplar aus dem Eimer, in den jeweils die ersten Exemplare geworfen wurden, die nicht perfekt gedruckt waren. Ich las. Die Politik gefiel mir”, erzählt er.

“Ich war ein glühender Fan von Alex Pedrazzini [damals Tessiner Staatsrat für die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP), die nach der Fusion mit der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP) 2020 zur Partei Die Mitte wurde, Anm. d. Red.]. Er war für mich ein bisschen das, was heute die Fussballspieler für die Kinder sind. Ein Roberto Carlos, wenn Sie wissen, was ich meine.”

Eigentlich nicht. Denn seine persönliche Geschichte ist eine ganz andere: Im Wahlkampf für die kantonalen Regierungs- und Grossratswahlen Anfang 2023 erzählte Fonio öffentlich und nicht ohne Emotionen von seiner Kindheit und Jugend in einer dysfunktionalen Familie.

“Ab der 4. Klasse war ich in einem Jugendheim, dem Von Mentlen in Bellinzona. Als ich nach der Sekundarschule nach Hause zurückkehrte, starb meine Mutter, so dass ich bis zu meiner Volljährigkeit im Heim bleiben musste.”

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Aber es war nicht das Charisma von Pedrazzini, das den jungen Fonio der damaligen CVP näherbrachte. Pedrazzini blieb sein Idol, aber die Wahl der Partei war wohlüberlegt.

Fonio recherchierte, las die Parteiprogramme und war beeindruckt von den Ideen der CVP, die den Menschen und die Familie in den Mittelpunkt stellte. Themen, die für ihn von grundlegender Bedeutung sind, wahrscheinlich beeinflusst durch seine Vergangenheit, seine Erfahrungen.

Fonios öffentliches Bekenntnis ist ein Manifest des Widerstands. Eine Botschaft der Hoffnung für alle, die keine Familie haben oder durch schwierige Zeiten gehen.

“Die Leute denken oft, dass hinter einer Person, die eine berufliche und politische Position erreicht hat, eine Familie steht, die ihr wichtig ist, oder dass sie gewisse Privilegien geniesst oder einfach Glück hat”, sagt er.

“Aber das stimmt nicht. Meine Schwierigkeiten zeigen, dass alle ihren Platz in der Welt erobern können, wenn sie dafür kämpfen. Man muss nur daran glauben.”

Dass Fonio nie zu zähmen ist, unterstreicht auch ein enger Freund, wie er ein “Momò”, der Trainer des Fussballclubs Lugano, Mattia Croci Torti: “Giorgio ist derselbe geblieben, der er immer war; jemand, der sich engagiert, freundlich und immer bereit ist, in der Not zu helfen.”

Die beiden Freunde haben einige Eigenschaften gemeinsam, die sie bei ihrer Arbeit auf dem Fussballplatz oder im Bundeshaus einsetzen: Sie sind leidenschaftlich, enthusiastisch und hartnäckig.

“Manchmal”, so Croci Torti, “muss man seinen Enthusiasmus zügeln. Aber ich muss ehrlich zugeben, dass Giorgio immer er selbst ist, ein sanfter Kämpfer, der es dank seines Charakters geschafft hat, in der Politik, im Beruf und in der Familie Ergebnisse und Erfolge zu erzielen.”

Die Familie im Zentrum

Mit seiner Frau Nicole, die er 2012 geheiratet hat, hat Fonio das aufgebaut, was er nie hatte: eine grosse, vereinte Familie. Heute hat das Paar vier Kinder im Alter von drei bis zehn Jahren.

Smartspider

Die Familie spielt eine wichtige Rolle in seinem Leben, “meine grösste Freude”, wie er sagt. Allerdings ist es schwierig, alle Aktivitäten unter einen Hut zu bringen. Mit dem politischen Engagement in Bern ist es noch komplizierter geworden.

Um das alles zu schaffen, “braucht es eine grosse familiäre Unterstützung. In diesem Sinn muss ich sagen, dass meine Frau Nicole eine grandiose Rolle spielt.”

Denn der junge Nationalrat hat auch gemerkt, dass seine Kinder noch sehr klein sind: “Man muss den Kindern gut erklären, dass der Papa nach Bern geht, aber dann kommt er zurück. Der Jüngste sagt amüsiert, der Papa gehe nach ‘Belna’… Ich möchte meinen Kindern beibringen und erklären, dass Politik ein Dienst ist, ein Dienst am Land.”

Im Bundeshaus und in der Gewerkschaft

Bei den eidgenössischen Wahlen im Oktober 2023 erhielt Fonio nach Fabio Regazzi aus Locarno die zweitmeisten Stimmen für Die Mitte. Im Tessin hat die Partei aber nur Anspruch auf einen Sitz im Nationalrat.

Weil Regazzi aber auch für den Ständerat kandidierte und mit grosser Unterstützung aus dem Mendrisiotto in die kleine Kammer gewählt wurde, war dessen Botschaft klar: Wir wollen Giorgio Fonio im Nationalrat!

“Für mich ist die Wahl in den Nationalrat etwas Aussergewöhnliches, etwas Unbeschreibliches. Wenn ich daran denke, welchen Weg ich gegangen bin und dass ich wirklich bei Null angefangen habe, dann ist das etwas Unbeschreibliches, das mich auch heute noch sehr bewegt”, sagt Fonio.

Um sich in die Bundespolitik einbringen zu können, musste Fonio seine Arbeit als Gewerkschafter überdenken. Pensenreduktion, interne Reorganisation, Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen.

“Allein kommt man nicht weiter”, räumt Fonio ein, der seit Februar 2021 das Regionalsekretariat Mendrisio der OCST mit 27 Mitarbeitenden und rund 12’000 Mitgliedern leitet.

Linke Politik

Mit Fonio verfügt Die Mitte in Bern über einen Politiker mit ausgeprägtem sozialem Gespür. Anders als sein Vorgänger Regazzi steht der Gewerkschafter aus dem Mendrisiotto auf der linken Seite des Parteischemas, bekennt sich aber klar zur Mitte.

“Auf dem ersten Kongress der neu gegründeten Mitte haben wir die Leitlinien verabschiedet: Wir sind eine Partei, die den Menschen in den Mittelpunkt der Politik stellt, die soziale und verantwortungsvolle Marktwirtschaft miteinander verbinden will. Eine Partei, die einen anderen Weg gehen will als die Parteien, die sich nur auf die Wirtschaft konzentrieren.”

Es ist kein Zufall, dass einer von Fonios politischen Bezugspunkten Meinrado Robbiani ist, Nationalrat der CVP von 1999 bis 2011 und im Tessin und in der Schweiz für seine soziale Sensibilität bekannt.

“Robbiani war mein erster kantonaler Sekretär der Gewerkschaft OCST und ist weiterhin ein wichtiger politischer Bezugspunkt für mich.” Fonio bewundert an Robbiani, dass er ein Politiker war, der von allen respektiert wurde, von rechts bis links. “Ein Vorbild, das mich inspiriert.”

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Der Linksruck der Tessiner Mitte ist nicht neu: Die christlich-soziale Komponente hat in der Tessiner Partei schon immer eine wichtige Rolle gespielt.

“Ich muss sagen, dass ich nach den ersten Abstimmungen im Nationalrat gemerkt habe, dass viele meiner Parteikolleginnen und -kollegen auch auf nationaler Ebene eine ähnliche politische Sensibilität haben wie ich”, fügt Fonio hinzu.

Einen Zug blockiert

Die Themen, die Fonio als Gewerkschafter am Herzen liegen, sind zweifellos jene, die mit der Arbeitswelt zu tun haben. Das Mendrisiotto, die südlichste Region der Schweiz, hat seit einiger Zeit mit grossen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen und muss mit der immer grösser werdenden Zahl italienischer Grenzgängerinnen und Grenzgänger leben.

Ein weiteres Thema, das mit seiner geografischen Herkunft zusammenhängt: der Strassenverkehr und die Bahnverbindungen. Der Politiker besteht darauf, dass der Alptransit auch südlich von Lugano fertiggestellt werden muss. “Bis gestern habe ich den Zug nur sehr selten benutzt. Jetzt, wo ich oft mit dem Zug nach Bern fahre, verstehe ich seine Bedeutung”, sagt er.

Fonios politische Karriere begann 2009 mit einer Blockade des Bahnverkehrs. Mit rund 100 Personen blockierte er den Cisalpino-Zug im Bahnhof Chiasso, um gegen die Streichung des Halts in der Grenzstadt zu protestieren.

Diesen Kampf haben sie gewonnen, auch wenn, wie Fonio sagt, “das Mendrisiotto bei den Schweizerischen Bundesbahnen und in der Verkehrspolitik des Bundes objektiv noch immer vergessen ist.”

Nicht nur Politik

Neben seiner Familie und der Politik hat Fonio noch eine weitere grosse Leidenschaft: Er ist ein grosser Fan des FC Chiasso, der wegen finanzieller Probleme in die vierte Liga abgestiegen ist (er ist Pressesprecher des Vereins), und von Inter Mailand, was ihm zusätzliche Befriedigung verschafft.

In seiner Freizeit, die immer kürzer wird, ist er auch als Schiedsrichter aktiv. “Für Menschen wie Giorgio, die anderen gerne helfen, ist es schwierig, auf dem Fussballplatz so streng zu sein, wie man es sein sollte!” Das sagt Mattia Croci Torti, der sich mit Fussball auskennt.

Dennoch, sagt Fonio, “lernt man etwas als Schiedsrichter. Man muss lernen, in kürzester Zeit Entscheide zu treffen. Und vor allem muss man lernen, mit Kritik umzugehen. Denn Du stehst auf dem Spielfeld gegen jeden und weisst, dass deine Entscheide nicht immer akzeptiert werden und Du manchmal sogar Fehlentscheide triffst. Das ist wie im Leben.”

Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub

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