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Kris Vietze: Voller Einsatz für die Industrie

Kris Vietze schaut in die Kamera
Kris Vietze, diplomierte Wirtschaftsprüferin, Unternehmerin, seit 2023 im Nationalrat. Thomas Kern / swissinfo.ch

CEOs aus der Industrie sind heute rar im Schweizer Parlament. Mit Nationalrätin Kris Vietze ist eine dazugekommen. Ihr Engagement gilt ganz den Unternehmen. Das heisst bei ihr auch: Verantwortung. Das Porträt der einstigen Auslandschweizerin schliesst unsere Serie ab.

Irgendwo auf der Zugfahrt zwischen Zürich und Bern sagt Kristiane “Kris” Vietze den Satz, der klingt wie ihr Credo: “Wenn etwas keinen Effekt hat, ist es Verschwendung.”

So macht sie auch Wahlkampf: uneitel, als Projekt. Als sie zum ersten Mal in die Politik wollte, kostete das wenig. All ihre Plakate standen auf Grundstücken von Bekannten und Freunden.

Damit sorgte sie in Frauenfeld, dem Hauptort des Kanton Thurgau, für Sichtbarkeit im Grossen. Ihre zweite Massnahme wirkte im Kleinen: All ihre Freundinnen hatten Schokoladen mit ihrem Konterfei in den Handtaschen, die sie eifrig verteilten.

Netzwerken im “Kanton der kurzen Wege”

Es war ein cleverer Wahlkampf. Er schöpfte aus der Kraft des Netzwerks. Wer den Thurgau kennt, nennt ihn auch den “Kanton der kurzen Wege”: Wirtschaft, Verwaltung und Politik sind sich nah und freundlich. Netzwerken ist darum eine Thurgauer Schlüsselkompetenz – und es ist Kristiane Vietzes grosse Stärke.

So liess Vietze 2012, bei ihrem Start in die Politik, zehn Parteikolleg:innen hinter sich. Eine “Senkrechtstarterin” nannte sie die Thurgauer Zeitung.

Auch der Sprung in die nationale Politik gelang ihr im Herbst auf Anhieb. Nur: Dieser Wahlkampf war viel teurer, 170’000 Franken, Inserate, Webseite, das ganze Programm. “Das Grundrauschen kostet”, sagt Kris Vietze, doch das Rezept blieb gleich: Sie spannte ein, was Rang und Namen hat. Sie liess sich empfehlen und sorgte für Sichtbarkeit.

Kandidiert hat sie auch für den Ständerat. Das hob sie in der FDP hervor, wieder machte sie Listenplätze gut – und eroberte für die FDP einen Sitz von sechs Nationalratssitzen zurück. Man kann nicht behaupten, dass die 170’000 Franken ineffizient eingesetzt worden wären.

Schlank gewachsen

Eine besondere Rolle hat ihr Mann gespielt. Auf seinem Auto stand in Grossbuchstaben “de Maa vo dä Kris”. Das ist von hintergründigem Witz, denn Oliver Vietze ist im Thurgau ein Unternehmer, den man kennt – und Kris ist wohl oft genug als “die Frau vom Oliver” wahrgenommen worden.

Oliver Vietze steuert die Baumer Gruppe in Frauenfeld, den grössten Arbeitgeber am Ort, alleine hier 800 Jobs. Ausserhalb des Kantons ist dieser Hersteller von Sensortechnik wenig bekannt, der Wirtschaftspresse immerhin als “versteckter Champion”.

Doch im Thurgau steht der Name Vietze für Wachstum und Erfolg. Von einst 10 Mitarbeitenden in den 1960er-Jahren wuchs die Firma auf weltweit 2700 Angestellte. Baumer ist in 19 Ländern vertreten und macht jährlich 500 Millionen Franken Umsatz.

Kris Vietze ist Mitinhaberin dieser Firma – ihr Mann ist der Patron, und sie überall involviert. Sie nimmt an den Sitzungen von Geschäftsleitung und Verwaltungsrat teil, hat ihr Büro am Hauptsitz, sprang auch schon ein, wenn im Management jemand ausfiel.

Kris Vietze sagt über ihr Unternehmen: “Wir fragen permanent: Wo gibt es Verschwendung?” Konsequent schlank bleiben. So sei Baumer gewachsen.

15-Stunden-Tage

“Sie hat die Dossiers stets im Griff.” Das sagt Marina Bruggmann, die Präsidentin der SP Thurgau. Politisch und im Kantonsparlament auf der Gegenseite, schätzt Bruggmann Vietzes “ruhigen Auftritt” und ihre “klare Sachlichkeit”.

Kris Vietze, fotografiert auf Schloss Herdern.
Kris Vietze, fotografiert auf Schloss Herdern. Thomas Kern / swissinfo.ch

“Die Grundlage von allem, was wir uns leisten können, ist unsere Schaffenskraft”, sagt sie. Ihr Arbeitstag beginnt um morgens um 7 und endet um 10 Uhr abends.

Im Zug nach Bern zieht das Schweizer Mittelland vorbei, all die Industrien und Gewerbebetriebe zwischen Zürich und Olten. Es sind lebende Organismen, die täglich ihren Platz in ihrem Ökosystem verteidigen und neu erobern, stets im Wettbewerb mit den anderen. “Wettbewerb ist immer gut, er schafft auch Ausgleich”, sagt Kris Vietze.

Kris Vietze DE

Spricht sie von Wahlkampf, redet sie von Wettbewerb. “Wenn ich kandidiere, stelle ich mich dem Wettbewerb. Und den will ich gewinnen.”

Spricht sie über Steuern, sagt sie: “Der Steuerwettbewerb unter den Kantonen tut der Schweiz gut. Tiefe Steuern lassen mehr Geld für Investitionen, Volkswirtschaftslehre, Kapitel 1.”

Wettbewerb auch bei Kinderkrippen

Auch wenn sie über Kinderkrippen spricht, ist Wettbewerb im Spiel. “Das Angebot an externer Kinderbetreuung wird sich entwickeln. Im Thurgau ist es unter den Gemeinden bereits zu einem Wettbewerb gekommen.”

In der Schweizer Politik sind die Vertreter von grossen Unternehmen rar geworden. Einst hatten viele Parlamentarier gleichzeitig grosse Firmen geleitet. Das Milizparlament ermöglichte die enge Verzahnung von Wirtschaft und Politik.

Später, als in den Firmen nicht mehr die Patrons führten, sondern CEOs, sind Lobby-Organisationen im Parlament dominanter geworden.

Wieder mehr Unternehmer:innen im Nationalrat

2023 waren die Chefs grosser Unternehmen fast ganz aus Bundesbern verschwunden, mit einer Ausnahme: Ems-Chefin Magdalena Martullo Blocher, SVP, 2700 Angestellte. Doch im Herbst 2023 kam wieder Industrieblut nach Bern, zwei Mitglieder der liberalen FDP: Ypsomed-Chef Simon Michel, 2200 Angestellte – und Kris Vietze.

Im vergangenen Oktober zogen 56 neu gewählte Abgeordnete in die beiden Kammern des Schweizer Parlaments im Berner Bundeshaus ein. Die SVP, die Mitte und die Sozialdemokratische Partei, die drei Parteien, die bei den eidgenössischen Wahlen 2023 am meisten zugelegt haben, stellen auch die meisten Neulinge im Parlament.

Im Gegensatz dazu haben die Grünen, die grossen Verlierer der Wahlen, es nicht geschafft, frisches Blut nach Bern zu bringen. In dieser Serie porträtiert swissinfo.ch neun Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die ihre ersten Schritte in der eidgenössischen Legislative machen.

Die Mutter war Kindergärtnerin, der Vater Swissair-Pilot. Kris wächst im ländlichen Matzingen bei Frauenfeld auf. Als Teenager im Lateingymnasium lernt sie im Schulskilager Oliver Vietze kennen. Die Liebe hält, das Paar tanzt Rock’n’Roll, zieht nach Zürich. Kris studiert Wirtschaft, Oliver doktoriert an der ETH. Baumer, die Firma seines Vaters, kennt er da bereits von innen.

Nach dem Studium geht Kris als Wirtschaftsprüferin zu PwC, wo sie bald Grosskunden betreut. Sie ist gut. Sie erkennt die Geschichten hinter den Zahlen rasch – und geht den Details auf den Grund, bis sie das Gesamtbild hat. “Verschiedene Firmen lösen Probleme auf unterschiedliche Art. Ein superspannender Job”, sagt Kris Vietze.

Auslandschweizer-Jahre in Deutschland

Als Oliver Vietze in die Firma seines Vaters eintritt, geht er erstmal nach Dresden, eine Niederlassung aufbauen. Die gemeinsame Tochter ist beim Umzug drei Wochen alt. Drei Jahre später kommt in Deutschland das zweite Kind zur Welt. “Es war eine intensive Familienphase, die ich sehr genoss”, erinnert sich Kris Vietze an die vier Jahre in Deutschland.

Wie fühlte sie sich als Auslandschweizerin? Sie denkt lange nach. “Das Echo auf unsere Herkunft, die Schweiz, war immer positiv”, erzählt sie, “aber es war auch immer klar, dass wir zurückkehren würden.”

Baumer macht den Grossteil des Geschäfts im Ausland. Das Unternehmen ist mit hochwertigen Produkten Marktführer in einem Nischenbereich. Die feinen Fühler von Baumer stehen international für beste Schweizer Qualität. 

Wirtschaft, Bildung und ein schlanker Staat

Wofür steht die Schweiz? Die Antwort kommt schnell. “Starke Wirtschaft, erstklassige Bildung und ein schlanker Staat”, sagt sie. “Wir haben ja sonst nichts.” Das alles ist gleichzeitig ihr politisches Programm.

“Wenn der Staat nicht effizient ist, stört er.” Es klingt fast nach libertärem Gedankengut, aber sie klärt auf: “Nein, ich bin zwar ein Fan von Freiheit, aber dazu gehört auch Verantwortung.”

Dass sie diese Haltung lebt, bestätigt Armin Strom, der mit ihr arbeitet. “Sie ist zwar gut situiert, aber gesellschaftlich übernimmt sie Verantwortung”, sagt der Geschäftsleiter von Schloss Herdern, eine etablierte soziale Einrichtung für Menschen mit psychosozialen Schwierigkeiten.

Kris Vietze präsidiert dort den Stiftungsrat. “Wenn wir sie brauchen, ist sie da”, sagt Strom, “aber sonst lässt uns Kris alle unternehmerische Freiheiten.” Er beschreibt sie als reflektiert und ruhig.

Kris Vietze, im Vordergrund ein Strauss Tulpen
“Wer mehr kann, soll mehr beitragen”: Kris Vietze. Thomas Kern / swissinfo.ch

Wirtschaftsprüfende sehen Unternehmen zuweilen wie lebendige Organismen: Geld ist Sauerstoff, und die Zahlen sagen, wie gut die Organe funktionieren, wo Blut fliesst, wo es krankt.

Ein solcher Blick wendet sich wohl zwangsläufig irgendwann den Rahmenbedingungen zu, dem Lebensraum der Unternehmen.

Politik aus Verantwortungsgefühl

Was ist das Ziel? “Wenn Sie einen Unternehmer fragen, dann ist die Antwort immer: Lasst mich einfach machen.” Das sei aber zu einfach. Zu den guten Schweizer Rahmenbedingungen gehöre auch die Rechtssicherheit, und diese ergebe sich aus der direkten Demokratie. “Wer mehr kann, soll mehr beitragen”, sagt sie. Auch darum mache sie Politik: aus Verantwortung.

Der Zug fährt in Bern ein, pünktlich wie in der Schweiz gewohnt. Bleibt die Frage nach dem Service public, jenen Leistungen des Staats, die nicht zwingend effizient sind, aber wichtig für das grosse Ganze. Wie eben dieser Zug, der sie nach Bern gebracht hat.

“Eine gewisse Grundleistung darf da sein,” antwortet sie. Sie sagt “darf”, nicht “muss”.

Editiert von Benjamin von Wyl

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