Wie die Schweizer Eliten ihren Einfluss wahren
In der Schweiz bleibt die Frucht der Leistung eher ein Ideal als eine Realität. Die Macht konzentriert sich weiterhin in den Händen einer Minderheit, die ihre Privilegien von Generation zu Generation weitergeben, sagt die Soziologin Anne-Sophie Delval gegenüber dem Westschweizer Fernsehen RTS.
«Im Vergleich zu anderen Ländern haben wir möglicherweise etwas mehr demokratische Möglichkeiten, aber es gibt immer noch Strategien innerhalb der Eliten, um sicherzustellen, dass sie von einer Generation zur nächsten eine bestimmte Form von Macht bewahren», sagt Anne-Sophie Delval.
Mit ihrem Team des Observatoriums der Schweizer Eliten an der Universität Lausanne untersucht die Forscherin diejenigen, die Machtpositionen in politischen oder wirtschaftlichen Sphären innehaben und deren Entscheide das Leben aller in der Schweiz beeinflussen.
Fragmentiertere Eliten
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kumulierten einige gleichzeitig politische Mandate und Sitze in Verwaltungsräten. «Diese Personen waren das, was man als multipositional bezeichnet – präsent in verschiedenen Einflusssphären. Heute beobachten wir fragmentiertere Eliten, die in geschlosseneren Zirkeln agieren», sagt Delval.
Das schulische Verdienst, das oft als Garant für Chancengleichheit dargestellt wird, reicht nicht immer aus, um soziale Ungleichheiten auszugleichen. «Die meisten Schweizer Eliten sind hochqualifiziert», so die Forscherin.
«Bei den wirtschaftlichen Eliten sind viele über die HSG St. Gallen gegangen. Bei den politischen Eliten gibt es etwas mehr Vielfalt, aber Universitätsabschlüsse bleiben wesentlich, um den Zugang zu Führungspositionen zu legitimieren.»
Heiraten zwischen Eliten
Bestimmte lokale Institutionen spielen ebenfalls eine Schlüsselrolle. «In katholischen Kantonen wie Freiburg oder dem Wallis platzieren Familien ihre Kinder von Generation zu Generation oft für eine bestimmte religiöse Ausbildung, aber auch um einen Zirkel unter Seinesgleichen zu bewahren, ein ziemlich privilegiertes soziales Netzwerk zu entwickeln, das für die spätere Karriere und die Familie als Ganzes nützlich sein wird.»
Die soziale Reproduktion erfolgt auch durch Familienbündnisse. «Es gibt immer noch Heiratsstrategien in der Schweiz», sagt die Soziologin.
«Die Nachkommen von Patrizierfamilien heiraten heute Personen aus der Grossbourgeoisie, der neuen wirtschaftlichen Elite. Wir sehen eine soziale Reproduktion durch Heirat: Man heiratet eher jemanden aus einem ähnlichen Milieu, um den Namen, den Ruf oder das wirtschaftliche Kapital zu bewahren.»
Ein Kult der Diskretion
Im Gegensatz zu anderen Ländern kultivieren die Schweizer Eliten Zurückhaltung. «Sie sind viel weniger sichtbar, besonders auf der medialen Bühne», sagt die Soziologin. «Es gibt diese helvetische Kultur der Diskretion, wo man nicht zu viel zeigen darf.»
So frequentieren die Eliten zwar spezifische Zirkel und zeigen bestimmte Distinktionsmerkmale, aber diese bleiben oft diskret und sind vor allem innerhalb des Zirkels unter sich wahrnehmbar. «Für Normalsterbliche fallen sie nicht unbedingt auf.»
Dieses Verhalten sei eine typisch schweizerische Diskretion, «die den Mythos einer grossen, homogenen Mittelklasse nährt, in der alle die gleichen Chancen hätten», schliesst Delval.
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