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Die Schweizer sind anders als man denkt

Wilhelm Tell-Freiluftaufführung auf der Rütliwiese: Nationale Stereotypen täuschen oft. Keystone Archive

Klischees lügen fast immer: Der verschlossene und gründliche Schweizer existiert nicht. Das besagt eine Studie, die 49 Kulturen der Welt analysiert hat.

Die leidenschaftlichen Italiener, die bescheidenen Kanadier, die offenen Inder: So sieht man sie, aber das ist ein kulturelles Phänomen, das den Medien, der Geschichte oder auch Witzen zuzuschreiben ist.

Wenn wir uns Schweizer beschreiben müssen, kommen uns Menschen in den Sinn, die pünktlich, hartnäckig, vertrauenswürdig sind. Aber auch ein Volk, das ein wenig verschlossen, auf sich selbst bezogen, traditionalistisch ist.

Nun sagt eine kürzlich veröffentlichte internationale Studie, an der für die Schweiz die Psychologen Willibald Ruch (Universität Zürich) und Jérôme Rossier (Universität Lausanne) beteiligt waren, dass die Wirklichkeit anders aussieht. Der Durchschnitts-Schweizer ist zwar gründlich, aber nicht so sehr, wie man allgemein glaubt. Er ist aber viel offener gegenüber Neuem, offener als der Durchschnitt in allen anderen Ländern.

Grosses Echo

“Die Studie hat ein grosses Echo gehabt”, sagt Professor Ruch gegenüber swissinfo. “Ein wenig auch deshalb, weil sie im renommierten Wissenschaftsmagazin ‘Science’ publiziert wurde, das der Psychologie sonst wenig Platz einräumt.” Aber auch deshalb, “weil jeder sich schon mal mit dem Bild auseinandergesetzt hat, das er von den Amerikanern, den Deutschen, den Schweizern hat”.

Allerdings seien die Erfahrungen des Einzelnen in diesem Bereich eher beschränkt, erklärt Ruch. Man könne annehmen, dass ein 20-jähriger Deutschschweizer 1000 andere Schweizer kennt, aber lediglich 20 Deutsche und drei oder vier Amerikaner. Und dennoch meine er, die Bevölkerung der anderen Länder zu kennen.

“Vom wissenschaftlichen Standpunkt her ist es interessant zu erforschen, ob nationale Stereotypen, bei denen es sich schliesslich um Vorurteile handelt, wirklich mit den objektiven Charakteristiken der Bevölkerung der verschiedenen Nationen übereinstimmen.”

Kriterien des Universalcharakters

Die Studie zeigt, dass durch Medien, Volksmund oder beschränkte persönliche Erfahrung entstandene Stereotypen selten der Realität entsprechen.

Laut den Forschern sind fünf Eigenschaften massgebend für die Charakterstruktur der Menschen: emotionale Stabilität, Extrovertiertheit, Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen, Liebenswürdigkeit und Gewissenhaftigkeit. Dabei handelt es sich um universale Werte, die in allen Kulturen existieren.

“Zuerst haben wir die an der Studie beteiligten Leute gefragt, sich selber sowie eine befreundete Person über 40 Jahre und eine im Mittelschulalter zu beschreiben”, sagt Ruch. Dann wurden die Leute aufgefordert, “den typischen Schweizer”, also einen Nationalcharakter zu umschreiben.

Schweizer, aber auch Deutsche, Franzosen, Italiener

Die Abgrenzung vom anderen, vom Nachbarn ist für das Bild wichtig, das viele Nationen von sich haben. “Die Schweiz wird oft als ein Volk von ausgeglichenen, unabhängigen, hartnäckigen Menschen gesehen. Aus der Studie geht indessen hervor, dass sich die Schweiz in einem Punkt klar vom internationalen Durchschnitt unterscheidet: Die Schweizer Bevölkerung ist besonders offen gegenüber Neuem”, so Ruch.

Abgesehen von dieser Offenheit unterscheidet sich die Bevölkerung, die in der Deutschschweiz lebt, nicht wesentlich von den Deutschen und Österreichern, genau so wenig wie die französischsprachigen Schweizer von den Franzosen und die Tessiner von den Italienern. In vier von fünf Fällen gibt es Unterschiede zwischen Deutsch- und Westschweizern.

Die Deutschschweizer sind offener für Neues und gewissenhafter als die Romands; diese wiederum sind emotional labiler und extrovertierter als die Deutschschweizer. Laut Studie erreichen die beiden Volksgruppen aber die gleichen Werte in Sachen Liebenswürdigkeit – leicht über dem internationalen Durchschnitt.

swissinfo, Doris Lucini
(Übertragung aus dem Italienischen: Jean-Michel Berthoud)

Für die Studie in der Schweiz verantwortlich waren die Psychologen Willibald Ruch (Uni Zürich) und Jérôme Rossier (Uni Lausanne).

Der stereotype Durchschnittsschweizer gilt als introvertiert, konservativ und gewissenhaft.

Laut Studie ist der Schweizer offener für Neues, extrovertierter und leicht gewissenhafter als der internationale Durchschnitt.

85 Wissenschafter aus aller Welt waren an dem Forschungsprojekt des National Institute on Aging, Baltimore, USA, beteiligt.

Die Forscher untersuchten in 49 Kulturen das Verhältnis zwischen stereotypen und objektiven Eigenschaften der Persönlichkeit.

Die Ergebnisse wurden am 7. Oktober 2005 im Magazin “Science” publiziert.

Die Studie zeigt, dass es in keinem Land – ausgenommen in Polen, Australien und Neuseeland – eine Übereinstimmung zwischen der Persönlichkeits-Struktur und den nationalen Stereotypen gibt.

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