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Faktencheck: Kommt man in der Schweiz ins Gefängnis, wenn man die Wohnung über 19°C heizt?

Drei Holzspielzeug-Figuren über einem Radiator
Die Schweizer Regierung schlägt vor, die Innentemperatur in öffentlichen Gebäuden, Büros und Wohnungen auf 19°C zu begrenzen, falls es diesen Winter im Land zu einer schweren Gasknappheit kommen sollte. Christian Beutler/Keystone

Als wären die steigenden Energiepreise nicht schon genug Grund zur Sorge für die Menschen in der Schweiz. Nun taucht auch noch das Gerücht auf, dass sie mit einer Geld- oder sogar einer Haftstrafe rechnen müssen, wenn sie ihren Thermostat auf über 19°C einstellen.

Wie viele andere Länder bereitet sich auch die Schweiz auf mögliche Energieengpässe in den Wintermonaten vor. Die Regierung hat Ende August Vorschläge gemacht, wie im Falle einer schweren Gasmangellage vorzugehen sei. Das sorgt für Spekulationen.

“Es gibt dieses seltsame Gerücht, dass die Schweiz Geldstrafen und sogar Gefängnisstrafen verhängen will, wenn man seine Wohnung auf mehr als 19°C aufheizt”, schreibt SWI swissinfo.ch-Leser Danny. “Ist das wahr?”

Danny schickte Links zu Artikeln verschiedener ausländischer Medien, in denen behauptet wird, dass die Schweizer Behörden Geldstrafen von bis zu 3000 CHF (3145 $) oder Gefängnisstrafen von bis zu drei Jahren verhängen würden, wenn die Einwohner:innen gegen eine neue Vorschrift verstossen, wonach die Innentemperatur nur 19°C betragen darf.

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Viele Zeitungen hatten diese Informationen von der Schweizer Boulevardzeitung Blick übernommen, die am 6. September einen ArtikelExterner Link mit dem Titel “Heiz-Sündern droht der Knast” veröffentlichte. Darin heisst es: “Im Ernstfall gilt: weniger heizen. Und Energiesünder müssen zittern. Bei Verstössen gegen die Gasverordnung drohen Freiheits- und Geldstrafen.”

Massnahmen in der Vernehmlassung

Markus Spörndli, Sprecher des Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF), der im Blick zitiert wird, sagt gegenüber SWI swissinfo.ch, dass die Geschichte von einigen missverstanden oder falsch interpretiert worden sei. Niemandem drohe in der Schweiz für das Aufdrehen der Heizung eine Strafe.

“In der Schweiz gibt es derzeit keine Strom- oder Gasmangellage”, schreibt er per E-Mail. “Es gibt daher keine geltenden Einschränkungen oder Verbote für den Energieverbrauch, gegen die verstossen werden könnte.”

Die vom Blick erwähnte Gasverordnung ist Teil eines Vier-Stufen-Plans, den Bern für den Fall einer Gasmangellage vorschlägt. Eine solche sei angesichts der geopolitischen Lage in diesem Winter nicht auszuschliessen. Der Verordnungsentwurf wurde in die Konsultation geschickt – die Betroffenen haben bis zum 22. September Zeit, sich dazu zu äussern.

SRF, Echo der Zeit vom 24.08.2022:

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Sollte die Regierung beschliessen, den Plan in die Tat umzusetzen, würden Heizbeschränkungen nicht unbedingt sofort eingeführt – wenn überhaupt. Denn die Massnahmen würden von der Schwere der Situation abhängen. In einem ersten Schritt gäbe es Sparappelle, die Menschen würden also aufgefordert, ihren Verbrauch zu reduzieren.

In den sozialen Netzwerken kursiert derzeit ein gefälschtes Plakat der Schweizer Regierung, auf dem erklärt wird: “Heizt Ihr Nachbar seine Wohnung über 19 Grad Celsius? Lassen Sie es uns wissen.” Es enthält die offizielle Telefonnummer des Bundesamts für Energie und verspricht eine Belohnung von 200 Franken.

In den letzten Tagen wurde ein Foto des Plakats mehrere tausend Mal getwittert. Eine slowakische Zeitung berichete darüber. Das Plakat sei jedoch eine Fälschung und die Informationen seien frei erfunden, sagt Emanuela Tonasso, Sprecherin des Eidgenössischen Departements für Umwelt und Energie, gegenüber der Zeitung Le Temps. Die Behörden haben eine Untersuchung eingeleitet, um herauszufinden, wer das gefälschte Plakat erstellt hat und warum. 

Wenn sich die Lage nicht bessert, würden die Behörden erst in einem dritten Schritt Verbote aussprechen, die auch Verbraucher:innen betreffen. Der Bundesrat könnte die Heiztemperatur zuerst in öffentlichen Gebäuden und in Büros, dann auch in Privathaushalten auf 19°C beschränken. Diese Regel würde nur für Räume gelten, die mit Gas beheizt werden.

Nach Angaben der Regierung verbrauchen die Haushalte mehr als 40% des Erdgases in der Schweiz, so dass sich diese Beschränkung auf den Gesamtverbrauch auswirken könnte. Die Einhaltung der Vorschriften ist daher ein wichtiges Thema. Theoretisch sind im Falle einer schweren Gasmangellage Bestrafungen möglich, bestätigt Spörndli.

Enge Überwachung nicht durchführbar

Das LandesversorgungsgesetzExterner Link (LVG), das als Rechtsgrundlage für die vorgeschlagene Verordnung dienen würde, sieht bei Widerhandlungen gegen Massnahmen Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren oder Geldstrafen vor. Tagessätze bei Geldstrafen können je nach wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters oder der Täterin zwischen 30 und 3000 Franken betragen.

Laut Spörndli wären solche Strafverfahren jedoch umständlich. Die Behörden müssten jeden Fall einzeln prüfen, da es sich nicht um Ordnungsbussen handelt, wie sie etwa die Polizei bei Verkehrsverstössen ausstellen kann, sondern um eine durch das Strafrecht festgelegte Geldstrafe.

“Die Verfolgung von Widerhandlungen gemäss LVG wäre daher kompliziert”, sagt er. “Strenge Kontrollen sind in jedem Fall weder machbar noch wünschenswert.”

Falls es tatsächlich zu einer Verurteilung wegen zu starken Heizens käme, würde ein Gericht laut Spörndli wohl eher eine Geldstrafe von 30 Franken aussprechen, 3000 Franken wären wohl kaum verhältnismässig. Die Verhängung einer Haftstrafe wäre zwar im Rahmen des Landesversorgungsgesetzes theoretisch möglich, aber ein Gericht würde dies wohl kaum als verhältnismässig erachten.

Sollte die Schweiz die Heiztemperaturen in Wohnungen tatsächlich beschränken, würden sich laut Spörndli die meisten Menschen vermutlich daran halten. So wie sich die meisten auf dem Höhepunkt der Covid-19-Pandemie an Massnahmen wie Social Distancing und Homeoffice gehalten hätten. “In der Schweiz vertrauen wir darauf, dass die Menschen sich an die Gesetze halten”, so Spörndli.

Urteil: Falsch

Die Schweizer Behörden verhängen keine Geld- oder Haftstrafen für das Heizen von Wohnungen über 19°C, da es derzeit weder eine Gasmangellage noch eine behördliche Beschränkung der Heiztemperatur gibt. Ein Verordnungsvorschlag zur Einführung einer solchen Beschränkung befindet sich noch in der Vernehmlassung. Sie würde nur im Falle einer schweren Gasmangellage in Kraft treten. Geldstrafen sind theoretisch möglich, aber für die Behörden nur schwer durchsetzbar. Gefängnisstrafen wären höchst unwahrscheinlich.

Adaptiert aus dem Englischen: Sibilla Bondolfi

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Sibilla Bondolfi

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