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“Staat darf Bernard Rappaz sterben lassen”

Trügerische Idylle: Hanfproduzent Bernard Rappaz im letzten Mai mit Kühen auf seinem Bauernhof in Saxon. Keystone

Staat und Ärzte müssen den Willen des Walliser Hanfbauers, der sich aus Protest gegen seine Gefängnisstrafe notfalls zu Tode hungern will, respektieren, sagt Ruth Baumann-Hölzle von der Nationalen Ethikkommission.

Sei eine Person urteilsfähig und gehe von ihr keine Gefahr für Dritte aus, sei deren Recht auf Abwehr von Zwangsmassnahmen höher zu gewichten als die Fürsorgepflicht des Staates, sagt Ruth Baumann-Hölzle im Interview.

Das Schicksal des hungerstreikenden Rappaz liegt derweil in den Händen der Ärzte des Berner Inselspitals. Ihnen liegt seit Freitagnachmittag der Entscheid der Walliser Staatsrätin Esther Waeber-Kalbermatten vor, Rappaz solle zwangsernährt werden.

In der Westschweizer Zeitung Le Matin Dimanche unterlegte sie den Entscheid mit einer Anordnung des Bundesgerichts vom vergangenen Donnerstag, Rappaz’ Leben müsse gerettet und seine körperliche Integrität gewahrt werden.

swissinfo.ch: Bernard Rappaz sagt von sich, dass er mit einem Fuss im Grab steht. Ist sein Wille, den Hungerstreik notfalls bis zum Tod durchzuziehen, auf jeden Fall zu respektieren?

Ruth Baumann-Hölzle: Ich meine schon. Heute gilt jede medizinische und pflegerische Handlung als Körperverletzung.

Nur die Einwilligung der urteilsfähigen Patientin oder des urteilsfähigen Patienten lässt die lebenserhaltende Massnahme zu.

Wir haben die Freiheit der Selbstschädigung, und das Abwehrrecht wird normalerweise höher gewichtet als die Fürsorgeverpflichtung des Staats zur Lebenserhaltung bei Urteilsfähigen.

Ausnahme ist, wenn eine Fremdgefährdung vorliegt, die Person also eine Gefahr für andere Menschen darstellt oder der Patient nicht urteilsfähig ist und keine Patientenverfügung vorliegt, dann gilt “im Zweifel für das Leben”.

Das Abwägen zwischen Abwehrrecht und Einforderungsrecht ist bei der Beurteilung der Fürsorgepflicht zentral. Oft werden aber stattdessen der Wille und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten als Einforderungsrechte in den Vordergrund gerückt. Aber die Meinung, der Patient kann machen, was er will, ist falsch.

swissinfo.ch: Anders gefragt: Darf ein Staat einen Bürger sterben lassen, wenn er dies in Kauf zu nehmen bereit ist? Ärzte haben ja die Pflicht, Leben zu erhalten/retten?

R.B.: Die Besonderheit der Situation besteht darin, dass er sich in Haft befindet. Da hat der Staat eine erhöhte Fürsorgepflicht.

Aber auch in diesen aussgewöhnlichen Situationen wie beispielsweise auch in der Psychiatrie dürfen Zwangsbehandlungen nur in Notsituationen vollzogen werden. Das ist dann der Fall, wenn ein Patient nicht urteilsfähig ist.

Das Abwehrrecht erlischt auch beim Gefangenen nicht. Man darf bei Zwangsbehandlungen nur soweit gehen, dass man bei Betroffenen die Fremdgefährdung ausser Kraft setzt. Eine Inhaftierung bedeutet also nicht, dass man den Gefangenen auch zwangsbehandeln darf.

swissinfo.ch: Ein zentrales Kriterium ist die Urteilsfähigkeit. Darf oder sollte der Staat Zwangsmassnahmen dann einsetzen, wenn der Hungerstreikende nicht mehr bei klarem Bewusstsein ist?

R.B.: Herr Rappaz hat eine Verfügung verfasst, dass er in dieser spezifischen Situation nicht zwangsernährt werden will. Weil er diese Situation antizipiert, müsste man sich an die Verfügung halten und man darf ihn nicht zwangsernähren, auch wenn er nicht mehr urteilsfähig sein sollte.

swissinfo.ch: Man kann Rappaz’ Argumentation umkehren und sagen, dass er mit dem Hungerstreik die Gefängnisstrafe umgehen will. Wird die staatliche Justiz dadurch nicht erpressbar?

R.B.: Es ist im freien Ermessen von Herrn Rappaz, auf Nahrung zu verzichten. Diese Freiheit des urteilsfähigen Menschen ist grundsätzlich zu respektieren, analog der Freiheit zu anderen selbstschädigenden Formen wie Nikotin- und Alkoholgenuss. Würde der Staat Herrn Rappaz zwangsernähren, würde er seinerseits ein Vergehen begehen, nämlich eine Körperverletzung.

Hungerstreik ist eine Form des zivilen Ungehorsams, mit der man sich tatsächlich einer Strafe entziehen oder auch auf ungerechte Situationen aufmerksam machen kann. Der Entscheid, ob Strafmassnahmen angemessen sind oder nicht, muss aber vom Hungerstreik unbeeinflusst getroffen werden.

Umgekehrt lautet die Frage, ob der Staat einen Menschen zwingen kann, seine Strafe abzusitzen. Da kommt die Frage ins Spiel, ob Strafe das Aufrechterhalten der öffentlichen Ordnung ist oder ob sie einen Racheaspekt hat. Der Staat soll aber nicht Rache nehmen können, er ist nur zuständig für die öffentliche Ordnung.

swissinfo.ch: Bernard Rappaz sagt, dass er mit seinem allfälligen Hungertod nicht zu einem Märtyrer für die Legalisierung von Cannabis würde. Teilen Sie Seine Einschätzung?

R.B.: Das ist schwierig zu sagen. Aber selbst wenn dem so wäre, wenn urteilsfähige Menschen bereit sind, für ein Anliegen zu sterben, ist das ihr persönlicher Entscheid.

Die Frage ist, ob die Fürsorgeverpflichtung des Staates soweit geht, dass er sich durch solche Massnahmen erpressen lässt? Dadurch würde aber die staatliche Ordnung gefährdet. Deshalb muss man dafür sorgen, dass der Staat vom Hungerstreikenden nicht erpressbar wird.

swissinfo.ch: Sie betonen das Primat des Abwehrrechts des urteilsfähigen Individuums. Wenn eine schwangere Zeugin Jehovas aus religiösen Gründen eine lebensrettende Bluttransfusion ablehnt und dadurch das Leben ihres ungeborenen Kindes gefährdet, geht es ja über das Recht des Individuums hinaus.

R.B.: Bei Kindern von Zeugen Jehovas wird während einer Operation die elterliche Obhut entzogen, damit sie eine Bluttransfusion erhalten können.

Wenn sich das Kind noch im Leib der Mutter befindet, ist die Debatte sehr kontrovers, selbst unter Medizinethikern. Meine Einschätzung geht dahin, dass das Abwehrrecht der Mutter höher zu gewichten ist, weil das werdende Kind existentiell von ihrem Leib abhängig ist und sich darin befindet.

Ist die Mutter urteilsfähig, wäre ein Zwangskaiserschnitt sehr fragwürdig, weil er eine Körperverletzung darstellen würde. Würde man diesen zulassen, könnte man jeder schwangeren Frau im dem Argument des Lebensschutzes des werdenden Lebens Zwangsmassnahmen verordnen. Denken wir an die Raucherinnen, Alkoholikerinnen, etc.

Wenn man die Selbstschädigung der schwangeren Frau als Fremdschädigung von werdendem Leben auslegt, stellt sich die Frage, ab welchem Moment der Schutzanspruch des Staates gegenüber dem werdenden Leben beginnt. Die Gesetze sind diesbezüglich ambivalent.

Behandeln wir Menschen entgegen ihrer Abwehrhaltung fürsorglich, laufen wir Gefahr, eine totalitäre Gesellschaft zu werden. Halten wir die Freiheit zur Selbstschädigung nicht hoch, müsste man jeden Raucher und jeden Alkoholiker internieren. Es ist der Preis einer freiheitlichen Gesellschaft, den Menschen diese Freiheit zuzugestehen.

Es ist unserer Gesellschaft angemessener, wenn wir das Sterben von Menschen in Kauf nehmen, die mit medizinischer Behandlung zwar überleben könnten, diese Behandlung aber explizit nicht wollen.

swissinfo.ch: Wie weit geht das Recht auf Selbstschädigung?

R.B.: Es ist kein Anspruchsrecht, sondern ethisch gesehen eine Freiheit, wie auch das Bundesgericht bestätigte. Die Gesellschaft ist nicht verpflichtet, mir Mittel zur Selbstschädigung zur Verfügung zu stellen.

Beihilfe zum Suizid ist in der Schweiz zwar toleriert, falls sie aus uneigennützigen Motiven geschieht. Aber sie kann von der Gesellschaft nicht eingefordert werden.

Bei Herrn Rappaz ist es so, dass ihm nicht lebenserhaltende Mittel vorenthalten werden, sondern er lehnt diese ab. Die Gesellschaft hat die Verpflichtung, ihm immer wieder Lebensmittel anzubieten. Aber wenn er diese im urteilsfähigen Zustand ablehnt, ist seine Ablehnung zu akzeptieren.

Renat Künzi, swissinfo.ch

2001 hatte die Walliser Polizei bei Bernard Rappaz, der für die Legalisierung von Hanfanbau und -konsum in der Schweiz kämpft, 51 Tonnen Hanf im Wert von bis 40 Mio. Franken beschlagnahmt.

Im November 2008 wurde er im Kanton Wallis wegen schweren Verstosses gegen das Betäubungsmittelgesetz zu fünf Jahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt.

Im März 2010 trat er seine Strafe an. Aus medizinischen Gründen infolge eines Hungerstreiks war die Strafe im Mai vorübergehend ausgesetzt worden.

Nach zwei Wochen wurde er wieder verhaftet, worauf er erneut in Hungerstreik trat.

Seither ist Rappaz gewillt, diesen bis zu seinem Tod fortzusetzen.

Am letzten Montag wurde er zwangsweise vom Genfer Unispital ins Berner Inselspital versetzt.

Das Walliser Kantonsgericht lehnte diese Woche Rappaz’ Rekurs gegen die Haftstrafe ab.

Sein Weiterzug vor Bundesgericht ist noch hängig.

Die Theologin ist seit Gründung 2001 Mitglied der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin NEK.

Seit 1999 ist sie Leiterin des Instituts Dialog Ethik mit Sitz in Zürich.

Dieses gibt auch eine Patientenverfügung heraus, die elektronisch hinterlegt werden kann.

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