Dokfilmer Jean-Stéphane Bron und die Ungleichheit unter Baukränen
Der Schweizer Dokumentarfilmer Jean-Stéphane Bron, bekannt für seine Filme über Macht und Gesellschaft, spricht mit Swissinfo über seine erste fiktionale Serie «The Deal» und seinen neuen Dokumentarfilm «Le Chantier». Beide feierten am Filmfestival Locarno Premiere.
Beim 78. Filmfestival von Locarno präsentierte der Schweizer Dokumentarfilmer Jean-Stéphane Bron neben seinem neusten Dokumentarfilm «Le Chantier» (Die Baustelle) auch seine erste fiktionale Serie «The Deal».
Als Meister seines Fachs beschäftigt sich Bron mit einer Vielzahl von Themen – von Spitzenpolitik bis hin zu intimen menschlichen Geschichten. Stets geht er der Frage nach, wie die Welt funktioniert. Seine Filme beobachten die menschliche Existenz und erforschen die Funktionsweise von Gesellschaften.
Als ich Bron im August beim Filmfestival in Locarno treffe, schlägt er vor, dass wir uns zum Gespräch auf eine Parkbank setzen. Eine leichte Brise bringt etwas Abkühlung in der Mittagshitze, während wir uns zu anderen Menschen in den Schatten gesellen – ein passender Rahmen für einen Filmemacher, dessen Werke gleichzeitig das Mächtige und das Alltägliche porträtieren.
Zunächst sprechen wir über «Le Chantier», seinen Dokumentarfilm über die Renovierung des Pathé Palace im Herzen von Paris. Nach einer Renovierung, bei der grössere Kinosäle und ein Glasatrium geschaffen wurden, wurde das historische Gebäude im Juli 2024 wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
In seinem Film vereint Bron verschiedene Themen, mit denen er sich schon lange beschäftigt. Diesmal betrachtet er sie jedoch aus der spezifischen Perspektive einer Baustelle.
Der Film erzählt von den Beziehungen zwischen Architekt:innen, Eigentümer:innen, Bauunternehmer:innen, Ingenieur:innen, Arbeiter:innen und dem Reinigungspersonal. Bron ist fasziniert von der Baustelle und sieht sie als Metapher für eine Gesellschaft, die sich nach der Pandemie neu formiert.
«Die Baustelle ist perfekt, weil sie alles vereint, was ich mag: Sie ist ein abgeschlossener Ort, den wir normalerweise nicht betreten dürfen. Sie ist spektakulär, wie kinetische Kunst – ein Monster in Bewegung, das sich wie eine Installation von [Alexander] Calder oder [Jean] Tinguely auf und ab bewegt», sagt Bron in Anspielung auf die beiden modernistischen Bildhauer.
Klassenpolitik unter der Lupe
Kräne gehören zum Stadtbild jeder Stadt. Die gigantischen Maschinen scheinen wie durch Zauberhand über Nacht aufzutauchen und den Beginn von Bauarbeiten anzukündigen. Doch wie viele von uns haben jemals miterlebt, wie ein Kran aufgebaut wird?
In einer von Technologie und Automatisierung geprägten Zeit richtet Bron seine Kamera auf das, was hartnäckig menschlich bleibt: die mühsame körperliche Arbeit beim Bauen. Der Film beginnt mit Arbeiter:innen, die das Fundament eines Krans hämmern, heben und befestigen – ein Lekhrstück in Kraft und Präzision.
Um die menschliche Dimension einzufangen, traf Bron bewusste filmische Entscheidungen. Zu Beginn des Dokumentarfilms geniessen wir einen seltenen 360-Grad-Blick auf Paris, der nicht etwa aus der Strassen- oder Satelliten-Perspektive, sondern vom obersten Stockwerk des halbfertigen Gebäudes.
Eine distanzierte, schwebende Satellitenansicht, die oft mit Zeitrafferaufnahmen kombiniert wird, lehnt Bron bewusst ab. Bei dieser Art der Filmaufnahme «erscheint das Gebäude wie durch Zauberhand. Es ist ein Weg, die Arbeit unsichtbar zu machen, die Mühsal der Arbeit auszulöschen, soziale Klassen auszublenden, den Menschen auszuradieren. Für mich ist das wirklich das zeitgenössische Bild des Kapitalismus».
Von seinem Aussichtspunkt aus ragt das Palais Garnier, das Opernhaus, in der Nähe empor. Es war selbst Gegenstand von Brons Musikdokumentation «L’Opéra de Paris» aus dem Jahr 2017. Wie in dieser früheren Dokumentation stellt er auch in «Le Chantier» die Hintergründe einer grossen Institution als Mikrokosmos der Gesellschaft dar.
Derselbe Ansatz prägt auch die Aufteilung der Bildschirmzeit. Jede Person, vom Bauarbeiter bis zum leitenden Architekten, erhält die gleiche Aufmerksamkeit.
So spielt Abdel Hazak, ein Bauarbeiter, in der Dokumentation eine ebenso zentrale Rolle wie Renzo Piano, der mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnete Architekt, oder Jérôme Seydoux, der französische Geschäftsmann, der das Projekt in Auftrag gegeben hat. Auf diese Weise baut Bron soziale Hierarchien ab.
«Der Architekt ist ebenso wie der Auftraggeber ein Mitglied dieser Gesellschaft. Innerhalb dieser Gesellschaft gibt es Menschen, die eine Stimme haben, Menschen, die Macht haben, Menschen, die sehr wenig haben, und Menschen, die gar nichts haben», sagt Bron.
«Mich interessiert es, diese Dynamiken zu beobachten, zu entschlüsseln und ans Licht zu bringen. Es geht darum, die Geschichte einer Gesellschaft bei der Arbeit zu erzählen.»
Zwischen Alltag und Leinwand
Die Intimität, die Bron mit seinen Protagonist:innen erreicht, ist das Ergebnis seiner Erfahrung und einer Reihe von Leitprinzipien. Sein Fokus auf die menschliche Existenz begann schon früh. Der gebürtige Lausanner ist seit drei Jahrzehnten im Kino tätig.
Sein erster Kurz-Dokumentarfilm, «12, chemin des Bruyères» (Bruyères-Strasse 12, 1995), hielt die bescheidenen Kämpfe gewöhnlicher Menschen fest, die im gleichen Gebäude leben.
Spätere Werke wie «Ma rue de l’Ale»(2022), die Bron während der Coronapandemie in der Strasse drehte, in der er seit achtzehn Jahren lebt, setzen diese intensive Beschäftigung mit dem Alltag der Menschen in seiner Umgebung fort.
Andere Filme haben ähnlich bescheidene Ansatzpunkte: «La bonne conduite» (1999) untersucht etwas sowohl Banales als auch Universelles: angehende Autofahrer:innen, die Fahrstunden nehmen, um sich auf ihre Führerscheinprüfung vorzubereiten.
Ebenso zentral für seinen Ansatz ist die Ethik. Bron betont, dass es beim Dokumentarfilm nicht darum geht, Urteile zu fällen, sondern zu beobachten, zuzuhören und zu verstehen.
Dieses Prinzip prägte die Art und Weise, wie er «Le Chantier» drehte. Zu seinen Grundregeln zählt, niemals eine Person zu zeigen, über die gesprochen wird, wenn diese nicht im Raum anwesend ist.
«Ein Dokumentarfilm ist keine polizeiliche Ermittlung, sondern eine Übung im Sehen, die nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten mit sich bringt», sagt er. «Es gibt Regeln. In diesem Fall habe ich dem Generalunternehmer gesagt: Sie öffnen mir Ihre Türen, zu allen Besprechungen – auch zu den umstrittensten. Aber wenn über jemanden gesprochen wird, der nicht im Raum ist, dann werde ich das nicht zeigen.»
Manchmal bricht Brons Erzählung mit den Konventionen des linearen Dokumentarfilms und driftet in die Fiktion ab. In «Le Chantier» filmt er traumhafte Sequenzen von Bauarbeiter:innen in ihren lokalen Kinos – von den Vororten von Paris bis nach Meknès in Marokko.
«Sie haben keine Stimme und keine Macht», sagt er. «Für mich ist es wie in den Werken von [dem französischen Schriftsteller] Honoré de Balzac, der sich für alle sozialen Schichten interessierte und auch der Arbeiterklasse eine fantasievolle Präsenz verleihen konnte.»
Er fährt fort: «Die Bauarbeiter beim Kinobesuch zu filmen, ist etwas sehr Schönes. Es ist eine Möglichkeit, ihnen eine Stimme zu geben, die nicht nur aus einem Interview oder einem Voice-over besteht.»
Algorithmischer Werdegang
Die meisten von Brons Werken sind im Dokumentarfilm verwurzelt, überschneiden sich aber oft mit anderen Genres. Einige Filme greifen die Spannung und das Tempo eines Politthrillers auf, andere grenzen an experimentelles Kino.
Brons Entwicklungsverlauf ist weniger linear als algorithmisch: Jeder neue Film baut auf den Grundlagen des letzten auf und kombiniert dessen Elemente zu etwas Neuem.
«Le Génie Helvétique» (Mais im Bundeshuus, 2003) warf die Frage nach der Macht im Schweizer Parlament und dem Verhältnis zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht auf.
«Danach suchte ich in ‘Cleveland versus Wall Street’(2010) nach einem Ort, an dem ich zeigen konnte, wie diese abstrakten Kräfte des Kapitalismus wirken.»
Dies weckte wiederum sein Interesse am Aufstieg des Populismus, den er in «L’Expérience Blocher» (2013) untersuchte, wobei er sich auf den Doyen der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP), Christoph Blocher, konzentrierte.
In diesem Geist entstand «The Deal», eine fiktionale Serie, die auf den Atomverhandlungen zwischen dem Iran und den Vereinigten Staaten im Jahr 2015 in Genf basiert.
«The Deal» trägt zwar die Merkmale einer eleganten Serie, die zum Binge-Watching einlädt, ist aber auch eine logische Fortsetzung von Brons Interesse an der Schweizer und internationalen Politik.
«Wir sprechen hier von Ereignissen, die sich 2015, also vor zehn Jahren, zugetragen haben. Beim Schreiben waren wir uns vollkommen bewusst, dass die Serie eine Welt widerspiegelte, die bereits Vergangenheit war, besonders was den Multilateralismus betraf», so Bron.
«Wir wussten, dass wir einen Paradigmenwechsel, das Entstehen einer neuen Welt darstellten, und wir sahen bereits einige Warnzeichen: den Brexit, Trumps Machtübernahme und seine einseitige Aufkündigung des Abkommens von 2015…»
Den Wechsel vom Dokumentarfilm zur Fiktion bei der Produktion von «The Deal» reflektiert Bron mit Humor. «Aus meiner Sicht als Dokumentarfilmer macht es mich nervös, sobald mehr als drei Personen beteiligt sind. Und plötzlich fand ich mich in einem Team von 60 Leuten wieder!»
Dennoch liebt er die Herausforderung und verweist auf seine fast schon athletische Gewohnheit, mehrere Projekte gleichzeitig zu jonglieren: «Es gibt eine Art Regel: Je mehr Filme man macht, desto mehr möchte man machen.»
Brons Neugier und Ambition bleiben auch für die Zukunft ungebrochen. «Ich arbeite an einem neuen Dokumentarfilmprojekt, das einige Elemente aus ‘Mais im Bundeshuus’ aufgreift, jedoch auf europäischer Ebene. Ich habe drei oder vier Projekte in Arbeit, aber ich weiss noch nicht, welche davon tatsächlich verwirklicht werden. Das hängt ganz von den Umständen ab.»
Menschen in der Schweiz und der Europäischen Union können «The Deal» hier auf PlaySuisse streamenExterner Link.
Interview mit Jean-Stéphane Bron über die Entstehung von «The Deal»:
Editietr von Virginie Mangin/ds, Übertragung aus dem Englischen mithilfe von Deepl: Michael Heger
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