Die Fünfte Schweiz träumt von einem Platz unter der Bundeshauskuppel
Was wäre, wenn die Fünfte Schweiz ihre eigenen gewählten Vertreter:innen im eidgenössischen Parlament hätte, wie in Frankreich oder Italien? Obwohl die Idee in der Schweizer Politlandschaft kaum Gewicht hat, zählt sie zu den langfristigen Zielen der Auslandschweizer-Organisation.
Die Idee, Sitze im Parlament für die Auslandschweiz zu reservieren, hat nie eine politische Mehrheit gefunden. An Versuchen hat es jedoch nicht gemangelt: Seit 2007 sind vier Vorstösse zugunsten einer direkten Vertretung der Diaspora eingereicht worden. Alle sind gescheitert.
Die Auslandschweizer-Organisation (ASO), welche die Interessen der Diaspora verteidigt, verfolgt diese Forderung jedoch weiterhin. Während der letzten Legislaturperiode des Auslandschweizer-Rats (ASR), dem Parlament der Fünften Schweiz, beschäftigte sich eine Arbeitsgruppe mit dem Thema.
Die Delegierten verabschiedeten eine Resolution, um das Projekt in die langfristigen Forderungen der ASO aufzunehmen. «Die öffentliche und politische Meinung ist nicht bereit, den Auslandschweizern mehr Rechte zu gewähren», sagt Constantin Kokkinos, Delegierter aus Griechenland und Mitglied der Arbeitsgruppe.
Tatsächlich sind die Parteien ausserhalb der Linken wenig geneigt, den Auslandschweizer:innen mehr Gewicht zu geben, auch wenn einige Abgeordnete der konservativen Rechten dafür sind.
Für die Lobby der Fünften Schweiz handelt es sich deshalb um eine langfristige Vision. «Wir warten den richtigen Moment für eine politische Aktion ab, bis dann wollen wir punktuell intervenieren, um die Idee voranzubringen», sagt Kokkinos.
Brauchen die Schweizer:innen im Ausland eine direkte Vertretung im Parlament? Uns interessiert ihre Meinung:
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Erhöhung der Sitzzahl im Nationalrat
Eine entsprechende Reform würde die Schaffung eines Wahlkreises für die Diaspora implizieren, eine Art 27. Kanton. Dies würde es den Ausgewanderten ermöglichen, ihre eigenen Vertreter:innen ins Parlament zu wählen.
«Wir hätten sechs bis acht Sitze im Nationalrat», schätzt Kokkinos. Die Arbeitsgruppe empfiehlt, die Anzahl der Sitze in der grossen Kammer zu erhöhen, um die Kantone nicht zu verärgern, indem man ihnen Sitze wegnimmt.
Das aktuelle System erlaubt es den Ausgewanderten bereits, zu wählen und ins Parlament gewählt zu werden. Jedoch ist eine Wahl ins Bundeshaus praktisch unmöglich, sei es wegen logistischen Hindernissen, mangelnder lokaler Sichtbarkeit und des Fehlens eines dedizierten Wahlkreises.
Nur der ehemalige Schweizer Botschafter Tim Guldimann schaffte die Wahl in den Nationalrat – 2015, während er in Berlin wohnte. Der selbsternannte «Internationalrat» trat jedoch während der Amtszeit zurück, da er feststellte, dass es schwierig sei, ein Land zu vertreten, ohne dort zu leben.
Die Diaspora verfügt auch über andere politische Verbindungen. Die parlamentarische Gruppe «Auslandschweizer», die mehr als 60 Parlamentsmitglieder umfasst, trägt die Forderungen der Diaspora ins Parlament.
Die ASO fungiert als Gruppensekretariat. «Es handelt sich um ein Lobbyismus-System, das gut funktioniert», sagt Kokkinos.
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Lukas Reimann: «Ein Auslandschweizer im Parlament würde nicht schaden»
Kokkinos glaubt jedoch, dass dies nicht ausreicht, um die politische Vertretung der Auslandschweizer:innen zu gewährleisten. «Die Schweiz muss ihre Demokratie modernisieren, indem sie die direkte Vertretung der im Ausland niedergelassenen Bürgerinnen und Bürger einführt», sagt der Delegierte.
Ein politischer Kampf zur Verteidigung der Diaspora in Rom
Nur in wenigen europäischen Ländern sind Ausgewanderte direkt im Parlament vertreten, so in Frankreich, Italien, Portugal, Kroatien und Rumänien. Deutschland hat hingegen ein ähnliches System wie die Schweiz.
Die Italiener:innen, die im Ausland leben, können acht Abgeordnete und vier Senator:innen im Rahmen eines Wahlkreises «Ausland»Externer Link wählen, der 2001 geschaffen wurde. Toni Ricciardi, italienisch-schweizerischer Bürger mit Wohnsitz in Genf, ist Abgeordneter für die Zone Europa (die Russland und die Türkei einschliesst).
In einer schriftlichen Antwort an Swissinfo räumt er ein, dass seine Aufgabe komplex sei: «Es ist sehr ermüdend, denn ich vertrete 3,6 Millionen Italienerinnen und Italiener in Europa. Die Zahlen, die Kontexte, die Themen sind anders als die, welche die italienische Politik betreffen.»
Um die Verbindung zwischen seiner Wähler:innenschaft und Rom zu pflegen, sagt er, er unternehme «an den Wochenenden unzählige Reisen im Wahlkreis, der sich von Moskau bis Lissabon, von Helsinki bis Malta erstreckt».
«Ich höre meinen Wählerinnen und Wählern zu, ich informiere sie über das, was im Parlament getan wurde, ich nehme ihre Bedürfnisse auf», sagt Ricciardi. Er gibt jedoch zu, dass es nicht einfach ist, die Forderungen der italienischen Diaspora in Rom durchzusetzen: «Jede kleine Massnahme ist ein politischer Kampf, zuerst innerhalb der Partei, dann mit dem Rest der politischen Kräfte.»
Er betrachtet jedoch die direkte Vertretung als wesentlich für ein Land wie Italien, «das seit 1876 fast 40 Millionen Bürgerinnen und Bürger hat gehen sehen». Seiner Ansicht nach sollte sich die Schweiz vom italienischen Modell inspirieren lassen. «Ich denke, dass die Schweizer in der Welt das Recht haben, ihre Vertreter zu wählen, denn es handelt sich um eine stetig wachsende Gemeinschaft», sagt er.
Aufrechterhaltung der demokratischen Verbindung
Marie-Ange Rousselot ist seit Oktober 2024 die Abgeordnete der französischen Community in der Schweiz und in Liechtenstein. Sie übernahm den Posten von Marc Ferracci, der französischer Industrieminister wurde.
Die 38-jährige Franko-Schweizerin, die Macrons Partei angehört, glaubt dass die Parlamentarier:innen der Französinnen und Franzosen im Ausland eine wesentliche Rolle spielen, um die Interessen dieser Gemeinschaft in der Nationalversammlung zu verteidigen.
«Die Prioritäten variieren je nach Land, aber der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, zu Konsulaten und zu Sozialhilfen bleibt grundlegend für die Franzosen im Ausland», unterstreicht sie. Für die Abgeordnete sei es wichtig, sich zu fragen, wie man die demokratische Vertretung der Bürger:innen im Ausland verbessern kann.
«Heute sind die Menschen immer mobiler. Viele gehen für einen Job ins Ausland und kehren dann zurück. Es ist für einen Staat wichtig zu wissen, wie man die Verbindung mit der Diaspora aufrechterhält», sagt sie. Sie glaubt jedoch, dass dies nicht zwangsläufig über eine direkte Vertretung gehen muss.
Kein Allheilmittel
Der Politikwissenschaftler und Direktor der Plattform Année politique suisseExterner Link Marc Bühlmann betrachtet ebenfalls die direkte Vertretung nicht als Allheilmittel. «Mit einem Gewählten der Fünften Schweiz unter der Bundeshauskuppel würde die symbolische Vertretung zwar verstärkt, aber nicht notwendigerweise die substanzielle Vertretung», sagt er.
Mit anderen Worten, ein eigener Sitz würde die Sichtbarkeit der Diaspora verbessern, jedoch ohne ausreichenden politischen Einfluss, um ihre Dossiers voranzubringen. Bühlmann identifiziert eine weitere Schwierigkeit: Obwohl die etwa 830’000 Auslandschweizer:innen ein wichtiges demographisches Gewicht darstellen, bilden sie eine sehr heterogene Gemeinschaft.
«Diese Personen teilen weder dieselben politischen Überzeugungen noch dieselben Interessen. Es ist daher schwierig, eine kohärente politische Aktion zu organisieren.» Nur bestimmte Thematiken, wie die elektronische Stimmabgabe, schaffen es, die Ausgewanderten zu vereinen.
Laut dem Politikwissenschaftler der Universität Bern ermöglicht das aktuelle System der Diaspora, ihre Interessen relativ effizient einzubringen, jedoch ohne echte institutionelle Macht. «Der Auslandschweizer-Rat hat keine formellen Rechte.»
Hingegen ist es der parlamentarischen Gruppe «Auslandschweizer» möglich, ihre Forderungen ins Parlament zu tragen» Bühlmann betrachtet es jedoch eher als ein Lobbyismus-System als eine politische Vertretung im strikten Sinn. Er bleibt skeptisch bezüglich einer Reform des Systems: «Es ist unwahrscheinlich, dass sich dafür eine politische Mehrheit findet.»
Unser Artikel über die letzte Sitzung des Auslandschweizerrats:
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Zwischen Einheit und Spannungen: Der Auslandschweizer-Rat nimmt seine Arbeit auf
Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen mithilfe der KI Claude: Janine Gloor
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