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Mafia in der Schweiz: Wenn alte Mordfälle wieder auftauchen

Patronenhülse
1992 wurde Basel von zwei schweren Bluttaten erschüttert. In beiden Fällen wurde vor Gericht davon ausgegangen, dass es sich um leidenschaftliche Motive handelte. Keystone / A4581/_christoph Schmidt

Vier Morde, die 1992 am Stadtrand von Basel begangen wurden, galten lange Zeit als "Verbrechen aus Leidenschaft" unter Italiener:innen. Der Jahresbericht 2021 der BundespolizeiExterner Link lüftet offiziell den Schleier über die alten Fälle, die mit der organisierten Kriminalität in Verbindung stehen. Die Spuren führen nach Kalabrien.

Ein Hinweis unter den vielen Zeugenaussagen, die wir im Sommer 2021 in Kalabrien für eine Recherche über die Präsenz der ‘Ndrangheta in den Kantonen Waadt und Basel gesammelt haben, ermöglichte es uns, den Spuren alter Mordfälle in Basel nachzugehen.

Die Informationen sind knapp, aber ausreichend, um Nachforschungen in Zusammenarbeit mit einem Kollegen von CH MediaExterner Link, Henry Habegger, anzustellen. Auch er ist sich sicher, dass die in diese Morde und Mordversuche verwickelten Kalabresen eine Verbindung zur dortigen Mafia ‘Ndrangheta haben.

Die ersten Morde ereigneten sich am 19. März 1992. Vito C., ein 26-jähriger Versicherungsvertreter italienischer Herkunft, begibt sich an jenem Morgen gegen 6.20 Uhr nach Muttenz – am Stadtrand von Basel – zur Wohnung seiner Ex-Freundin Giovanna*, in die er offenbar immer noch verliebt ist.

Vito C. schiesst mehrmals auf Giovanna und ihren Vater, dringt in die Wohnung ein und schiesst auf die Mutter der jungen Frau, dann auf ihren Bruder. Der schwer verletzten Mutter gelingt es, zu ihren Nachbarn zu flüchten, wo sie kurz darauf stirbt. Nur der Bruder, Andrea*, kann entkommen und überlebt.

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Vito C. flieht in seinem Auto, das er vor seinem Arbeitsplatz stehen gelassen hat, bevor er zu Fuss weitergeht. Am Abend findet ihn die Polizei in einer abgelegenen Hütte im Kanton Basel-Landschaft – gerade noch rechtzeitig, um sein Leben zu retten: Er hatte versucht, sich durch einen Kopfschuss umzubringen.

Im Krankenhaus wurde Vito C. gesundgepflegt, er blieb aber blind, gelähmt und hirngeschädigt. Bei seinem Prozess vor dem Strafgericht Liestal im Jahr 1995 erschien er zusammen mit zwei anderen Italienern: mit einem Komplizen, der dafür bezahlt worden war, in das Haus von Giovanna einzubrechen, und mit Domenico F., einem Schuhmacher aus Kalabrien, der ein Geschäft im Basler Gellertviertel betrieb.

Der damalige Gerichtspräsident Rainer Schaub sprach von einem “Verbrechen aus Leidenschaft”, eine allgemeine Einschätzung, die durch morbide Details verstärkt wurde, über die die Basler Zeitung im Januar 1995 berichtete: “Vom schrecklichen Geschehen, den Schüssen und Angstschreien sowie den obszönen Verwünschungen, die der Mörder während der Tat ausstiess, besteht ein makabres Tondokument: Der Amokschütze hatte während seiner Tat ein Tonband laufen lassen.”

Komplizenschaft in Frage gestellt

Vito C. wurde zu einer Freiheitsstrafe von 16 Jahren und einem 13-jährigen Einreiseverbot in die Schweiz verurteilt. Sein Komplize wurde zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt, die wegen dessen Alkoholkrankheit in eine therapeutische Massnahme umgewandelt wurde.

Domenico F., der für diesen und einen weiteren Mord angeklagt worden war, wurde zu 18 Jahren Haft und einem 16-jährigen Einreiseverbot in die Schweiz verurteilt. Domenico F. ist jetzt 80 Jahre alt und lebt wieder in Italien.

Das Gericht hob die Freundschaft zwischen Vito C. und Domenico F. hervor, sowie die Tatsache, dass letzterer Vito C. bei dessen Mordplan “psychologisch” unterstützt und mit Waffen versorgt habe. Die Gründe für die Mittäterschaft von Domenico F. konnten jedoch “nicht präzisiert werden”.

Mehrere Zeugen, die beide Männer zu dieser Zeit kannten, sagten aus, Vito C. sei ein schwieriger junger Mann gewesen, der von einem grossen Leben geträumt habe und bei Domenico F. verschuldet gewesen sei.

Wir werden die Wahrheit wahrscheinlich nie erfahren, denn Vito C. starb 2009 im Alter von 43 Jahren in Italien. Die zentrale Frage ist jedoch, ob Domenico F. ein Interesse daran hatte, Giovannas sizilianische Familie zu bestrafen oder gar “verschwinden” zu lassen.

Streitereien oder kaltblütige Hinrichtung?

Am 26. Oktober 1992, nur sieben Monate nach diesem Dreifachmord, ereignete sich in Basel eine weitere schwere Bluttat. Am späten Abend – so berichtet der Blick – stand “auf der Strasse in der Nähe des Stadions St. Jakob eine grössere Gruppe Italiener. Sie redeten. Die Diskussion wurde immer lauter. Dann fielen Schüsse”. Bei den Opfern handelt es sich um drei Brüder: zwei von ihnen, Vincenzo* und Antonio*, werden verwundet, der dritte – Carmelo Spina, 32 – wird mit vier Kopfschüssen niedergestreckt.

Nach der Verhaftung von zwei der Schützen gab die Basler Polizei bekannt, dass sie nach dem dritten Mann suche: 55 Jahre alt, kurze schwarze Haare, wohnhaft in der Basler Gemeinde Riehen und gefährlich, weil er “kaltblütig” vorgehe. Es handelt sich um Domenico F., der sich erst am 17. November den Behörden stellt.

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Domenico F. stammt aus Melicucco in Kalabrien, der Heimat von Rocco Santo Filippone, Chef der ‘Ndrangheta. Dieser war wegen seiner Beteiligung an Anschlägen gegen den italienischen Staat in den Jahren 1993 und 1994, die auf ein Bündnis mit der Cosa Nostra zurückgehen, zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden.

Dasselbe Dorf, dieselben Neigungen? Auf jeden Fall wusste Domenico F., wie man Freundschaften pflegt: Unsere Nachforschungen zeigen, dass er Ende der 1980er-Jahre einem “Cousin” half, sich in Basel niederzulassen.

Dieser war ein hohes Tier, F.M., und stammte ebenfalls aus Melicucco. Er wird heute verdächtigt, der Leiter der “locale” (der Basiszelle der ‘Ndrangheta) von Basel zu sein, offenbar von Filippone selbst in diese Position “berufen”.

Die Opfer von Domenico F., ebenfalls Kalabresen, sind in der Gastronomie tätig, der “Gastro-Italo-Szene”, wie die Basler Zeitung sie nennt. Die Spuren eines Zweigs der Familie Spina finden sich Jahre später in der italienischen Anti-Mafia-Operation “Six Towns” (2016).

Im Jahr 2020 verurteilten Richter in Catanzaro mehrere Familienmitglieder zu Haftstrafen wegen Zugehörigkeit zur ‘Ndrangheta, genauer gesagt zur ‘Ndrina von San Giovanni in Fiore (Provinz Cosenza).

Domenico F. kennt diese Familie sehr gut: Mitte der 1980er-Jahre lieh er dem ältesten Spina-Bruder Vincenzo* eine grosse Summe Geld, um ihm bei der Gründung einer Trattoria zu helfen. Das Restaurant war erfolgreich, aber Vincenzo hatte einen zweifelhaften Ruf im Geschäft und neigte dazu, die Einnahmen für Vergnügungen zu verschwenden.

Später verliebte sich Domenico F. unsterblich in Valentina*, Vincenzos Ex-Frau. Für sie hatte er ein Restaurant im Basler Quartier Breite eröffnet, wo er nachts arbeitete. Alles schien gut zu laufen, bis Vincenzo begann, ihn und Valentina zu belästigen.

Damalige Verdächtigungen

Bei seinem Prozess im Jahr 1995 rechtfertigte Domenico F. den Mord vom Oktober 1992 mit dieser seelischen Qual. Was jedoch nicht erklärte, warum er den jüngeren Bruder von Vincenzo, Carmelo Spina, kaltblütig ermordet hatte.

Die Basler Zeitung, die ausführlich über den Fall berichtete, schilderte den Prozess so: “Obwohl der Gerichtspräsident den Angeklagten wegen Ungereimtheiten in seinen angeblichen Motiven zurechtwies, schwieg der Schuhmacher über das wahre Tatmotiv. Selbst der ältere Bruder, dessen Aussage voller Widersprüche war – um nicht zu sagen Lügen –, war nicht in der Lage, die entscheidende Frage nach dem Motiv des Verbrechens zu beantworten. Ausser, dass er sagte, er könne darüber nicht sprechen. Wenn das ‘Unaussprechliche’ hinter dieser Tat die Mafia ist, was die Anklage zumindest zwischen den Zeilen zum Ausdruck bringt, dann haben beide gute Gründe zu schweigen. Der Zeuge, um sich nicht selbst eines Verbrechens zu bezichtigen (wozu er das Recht hat), und der Schuhmacher, um sich und seine Familie keinen Repressalien auszusetzen.”

Die Mafia und die “Abrechnung nach süditalienischer Art” tauchten also zumindest teilweise zur Zeit der Ereignisse in den Medien auf, und zwar wie immer vor dem Hintergrund grosser Geldbeträge.

Im Februar 2021 räumte die Schweizer Regierung nach entsprechenden Äusserungen der Direktorin der Bundespolizei FedpolExterner Link, Nicoletta Della Valle, ein: “So werden auch bereits abgeschlossene Fälle, bei welchen die Mafia nicht im Fokus der damaligen Ermittlungen stand, mit den aktuellen Informationen und Methoden abgeglichen, wodurch erst im Nachhinein der Bezug zu mafiösen Aktivitäten ersichtlich wird.” Das scheint nun auf den Basler Fällen zuzutreffen.

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