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Palliativpflege im Hospiz: Sterben wie zu Hause

Wenn das Licht des Lebens erlischt, möchten viele Menschen ihre letzten Tage zuhause verbringen. "La Maison de Tara" in Genf bietet eine Alternative zu einem Spitalaufenthalt, wenn ein Aufenthalt zu Hause nicht mehr möglich ist.

Ein Dienstag Ende Oktober, 10 Uhr vormittags. Pierre, ein 54-jähriger Freiwilliger, frühstückt mit einem Bewohner des “Maison de Tara” im Speisesaal im Erdgeschoss.

Draussen sind 12 Grad. Der Himmel ist bewölkt. Die Bäume im grossen Garten haben ihre Farbe verloren. Ein kalter Wind zerzaust die Äste. Der Winter steht vor der Tür.

Auf dem Tisch stehen gewürfelte Kiwis, eine Scheibe Vollkornbrot mit Butter und Cenovis, ein salziger Brotaufstrich. Dazu ein Glas Zitronensirup und eine Tasse Kaffee. Genau das, was der Bewohner im Rollstuhl zum Frühstück haben wollte.

Nur das Klirren des Bestecks hallt im Raum.

Der Mann im Rollstuhl öffnet den Mund. Wegen eines Hirntumors kann er nicht mehr normal sprechen. Im Flüsterton sagt er zu Pierre: “Die Blumen sind aufgegangen”. Er meint die Rosenknospen in der Vase auf dem Tisch. Sie haben sich geöffnet. Pierre schiebt die Vase herüber, der Mann riecht an den Blumen.

Der Tisch
Der Tisch, an dem Pierre und der Mann im Rollstuhl gefrühstückt haben. Die Rosen in der Vase blühen. Kaoru Uda

Die cremefarbene Villa steht in einem ruhigen Wohnquartier, etwa 20 Busminuten vom Genfer Stadtzentrum entfernt. In den Gemeinschaftsräumen im Erdgeschoss deutet bis auf ein Handdesinfektionsgel und zwei Rollstühle nichts auf ein Palliativpflegeheim hin. Niemand käme auf die Idee, dass hier Patient:innen leben, die auf ihren Tod warten.

Das Haus
Schon beim Betreten des Hauses herrscht eine gemütliche Atmosphäre. Kaoru Uda

Inspiriert von niederländischem Pflegeheim

Hier gibt es keine Menschen in weissen Kitteln. Die medizinische Versorgung wird von Organisationen der häuslichen Krankenpflege und von Ärzten, die zu Ihnen kommen, geleistet. Wie zu Hause. Im Erdgeschoss und im ersten Stock gibt es jeweils zwei private Zimmer. Die vier Bewohner:innen werden von einheimischen Freiwilligen wie Pierre betreut.

Eine Atmosphäre “wie zu Hause” bieten– das war das Ziel der Gründerin Anne-Marie Struijk-Mottu, als sie La Maison de Tara ins Leben rief.

Struijk-Mottu, die in medizinisch-sozialen Einrichtungen für ältere Menschen als Freiwilligenkoordinatorin gearbeitet hat und ihre eigenen Grosseltern und Eltern bis zu deren Tod gepflegt hatte, wollte einen Ort schaffen, an dem Menschen ihre letzten Tage in häuslicher Atmosphäre verbringen können.

Als sie von einem kleinen Hospiz in den Niederlanden hörte, in dem sich Ehrenamtliche um die Bewohner:innen kümmern, besuchte sie die Einrichtung und festigte die Idee von La Maison de Tara. 2007 gründete sie eine gemeinnützige Stiftung und begann mit der Ausbildung von Ehrenamtlichen; 2011 öffnete La Maison de Tara als erste nicht-medizinische Palliativresidenz der Schweiz die Türen.

Ein Ort zum Wohlfühlen

Die Bewohner:innen verbringen ihren Tag so, wie sie es wünschen. Manche bleiben tagsüber im Bett und sehen fern, andere gehen bei schönem Wetter in den Garten, um frische Luft zu schnappen. Das Mittagessen wird vom Koch zubereitet, aber “manchmal kocht die Familie der Patientinnen und Patienten auch selbst”, sagt Betriebsleiterin Sabine Murbach.

Der Koch
Nicola, der Koch, ist ein bezahlter Angestellter. Die Menüs werden entsprechend dem Gesundheitszustand und die Wünsche der Bewohner zusammengestellt. Kaoru Uda

Christiane, 82, die im zweiten Stock lebt, wurde vor 18 Monaten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert, nachdem ihre Tochter sie auf eine gelbliche Verfärbung ihres Körpers aufmerksam gemacht hatte. Der Arzt wusste nicht, wie lange sie noch zu leben habe. Sie wurde 52-mal bestrahlt, aber der Krebs kehrte nach einem Jahr zurück.

Am 23. Oktober kam sie ins ” Tara “. Davor hatte sie drei Monate im Spital zugebracht, aber das Leben dort gefiel ihr gar nicht. ” Es kamen und gingen zu viele Leute. Die Ärzte und das Pflegepersonal schienen alle sehr beschäftigt. Wenn ich duschen wollte, wusch mich das Pflegepersonal mit einem Lappen auf dem Bett. Ich fühlte mich wie ein Objekt behandelt.

Auf Anraten ihrer Töchter beschloss sie, ins “Tara” zu ziehen.

Christiane fühle sich hier sehr wohl. “Heute Morgen habe ich mit Hilfe der Freiwilligen im Bad geduscht. Ich bin sehr stolz”, sagt sie und lacht.

Eine Patientin
Christiane ruht sich in ihrem Bett aus. Dreimal pro Woche kommt Pflegepersonal zu ihr. Zurzeit erhält sie Medikamente, um die Schmerzen und den Brechreiz zu kontrollieren. Kaoru Uda

Drei von vier Menschen in der Schweiz möchten ihre letzten Tage zu Hause verbringen. Für diese Patient:innen gibt es zwar Pflegedienste, doch für todkranke und schmerzgeplagte Menschen ist es manchmal schwierig, daheim zu bleiben.

“La Maison de Tara ist da, damit diese Menschen ihre letzten Tage in einer häuslichen Umgebung verbringen können”, sagt Murbach. Der Aufenthalt kostet 80 Franken pro Tag. Die medizinische Versorgung, zum Beispiel Arztbesuche, wird von der Krankenkasse übernommen.

Der Betrieb von Maison de Tara kostet 940’000 Franken pro Jahr, wovon ein grosser Teil auf private Spenden zurückzuführen ist. Der Kanton Genf subventioniert die Ausbildung von Freiwilligen, die als künftige Betreuerinnen und Betreuer eingesetzt werden.

Trainingszentrum für Freiwillige

Neben 10 bezahlten Mitarbeitenden, darunter Murbach, hat La Maison de Tara rund 100 Freiwillige, die sich von 8 bis 22 Uhr abwechselnd um die Bewohner:innen kümmern. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Bereichen, darunter finden sich Pflegefachpersonen, Rechtsanwält:innen, Berufstätige und Pensionierte.

Fotos
Die Freiwilligen des Maison de Tara. Kaoru Uda

Pierre ist hauptberuflich Hypnosetherapeut. “Es wäre traurig, allein und einsam zu sterben. Als Freiwilliger muss man nichts Besonderes tun. Wir sind einfach da für sie. Ich finde die Idee sehr gut.”

Die Freiwillige
Pierre, links, redet mit Kolleginnen in dem Briefing. Er besucht Tara zwei Dienstage im Monat für jeweils fünf Stunden. Kaoru Uda

Die Ausbildung der Freiwilligen dauert ein Jahr. Mindestens zweimal im Monat kommen sie ins “Tara”, um sich um die persönlichen Bedürfnisse der Bewohner:innen zu kümmern. Darüber hinaus gibt es monatliche Schulungen, in denen sie nicht nur lernen, wie man Patient:innen pflegt, sondern auch, was es mit dem Sterben auf sich hat und wie man mit Patient:innen und Angehörigen kommuniziert.

“Sie arbeiten hier als Freiwillige, nicht um ein Sprungbrett für den nächsten Job in der Pflege oder Betreuung zu nutzen, sondern einfach, um für die Gemeinschaft einen Beitrag zu leisten”, sagt Murbach.

Assistierter Suizid verboten

In der Schweiz ist der assistierte Suizid legal. La Maison de Tara akzeptiert ihn jedoch nicht in seinen Räumlichkeiten. Wenn die Bewohner:innen dies wünschen und ihre Rückkehr nach Hause dafür vorgesehen ist, wird La Maison de Tara alles Notwendige veranlassen.

“Wir bieten unseren Bewohner:innen Unterstützung bis in die letzten Momente ihres Lebens”, erklärt Sabine Murbach. “Wir leugnen keineswegs die Existenz von Sterbehilfeorganisationen. Wenn die Bewohner:innen ihre Leben in den letzen Tagen geniessen wollen, werden wir unser Bestes tun, um sie zu unterstützen.”

Von den 270 Menschen, die im La Maison de Tara bislang ihre letzten Tage verbracht haben, haben sich nur zwei für den assistierten Suizid entschieden.

Umzug im nächsten Jahr

Das La Maison de Tara wird nächstes Jahr umziehen. Das derzeit von der Gemeinde zur Verfügung gestellte Gebäude wird abgerissen, um den Ausbau der benachbarten Grundschule Belvédère zu ermöglichen. wird wegen der Erweiterung der benachbarten Grundschule École du Belvédère abgerissen.

Der Umzug erfolgt in ein gemeindeeigenes Gebäude in der Nähe der École Culture Générale Jean-Piaget, etwa 2 Kilometer vom derzeitigen Standort entfernt. Der Gemeinderat von Chêne-Bougeries hat kürzlich einstimmig beschlossen, rund 2,4 Millionen Franken für die Renovierung des Gebäudes bereitzustellen.

“Die Freiwilligen sind da, weil sie wollen. Sie stehen nicht unter Zeitdruck wie das Pflegepersonal oder die Ärzte, die sich um zahlreiche Patienten kümmern müssen.”

Sabine Murbach, Betriebsleiterin

Wenn alles gut geht, soll der Betrieb im kommenden Herbst am neuen Standort mit vier Zimmern für die Bewohner:innen wieder aufgenommen werden.

Sterben in Würde

Die beiden Töchter von Christiane, die in der Nähe wohnen, besuchen ihre Mutter abwechselnd, jeden Tag ist eine der beiden da.

Anstelle eines Spitals mit vielen Gesichtern, die kommen und gehen, kann Christiane hier mit Hilfe von Freiwilligen duschen und essen, ohne von jemandem gehetzt zu werden, in einem entspannten und ruhigen Rahmen. “Die Freiwilligen des ‘Tara’ behandeln mich wie einen Menschen. Das macht mich sehr glücklich”, sagt sie.

Genau um diese Art der Betreuung gehe es im La Maison de Tara, betont Murbach. “Die Freiwilligen sind da, weil sie wollen. Sie stehen nicht unter Zeitdruck wie das Pflegepersonal oder die Ärztinnen und Ärzte, die sich um zahlreiche Patienten kümmern müssen. Die Freiwilligen können sich Zeit nehmen, um bei den Bewohnerinnen und Bewohnern zu sein. “

Christiane hofft, bis nach Weihnachten zu leben. Sie weiss nicht, wann ihr Licht erlischt. “Aber bis dahin möchte ich meine Zeit in Frieden verbringen, umgeben von meiner geliebten Familie. Das ist für mich ein Tod in Würde. Und das ‘Tara’ gibt mir diesen.”

Editiert von Marc Leutenegger

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