Locarno Festival reisst Mauern ein, um «Cinephilie»-Mekka zu werden
Die 75. Ausgabe des wichtigsten Schweizer Filmfestivals schlug eine Richtung ein, die den Trends anderer grosser Festivals zuwiderläuft. Die Wette auf eine Mischung aus Publikumslieblingen und radikalen Formaten hat sich gelohnt.
In seinem zweiten Jahr als künstlerischer Leiter des Filmfestivals Locarno hat Giona Nazzaro einige chirurgische Eingriffe vorgenommen, die zu einer bedeutenden Neupositionierung der Veranstaltung in der internationalen Filmlandschaft geführt haben.
Die «Cinephilie» ist seit Jahrzehnten ein Markenzeichen des Festivals, aber unter Nazzaros Leitung gewinnt sie an Bedeutung, wird fast zur Notwendigkeit. Sie ist zum Schlüsselwort von Locarno geworden. Als offizielles Motto erschien sie in den Eröffnungsvignetten jeder Vorführung: «Cinephilia Unlimited» («Cinephilie ohne Grenzen»).
Damit will sich Locarno auf radikale Weise von den anderen grossen europäischen Festivals wie Cannes, Berlin und Venedig abheben. Locarno setzt sich für das Kinoerlebnis seines Publikums und von Filmfans aus der ganzen Welt ein.
Es entzieht sich damit dem allgemeinen Trend, sich in einen wettbewerbsorientierten, überfüllten Markt zu verwandeln, in dem Verleiher und Verkaufsleitende im Hintergrund Geschäfte machen, während Weltstars das Rampenlicht nutzen, um ein Massenpublikum zu verblüffen.
Doch die Branche schreckte vor dieser klaren Neupositionierung nicht zurück, ganz im Gegenteil. Das Festival brach alle Rekorde und verzeichnete sogar mehr Besuchende aus der Industrie als in der Zeit vor der Pandemie – vom bisherigen Rekord von 1040 Fachleuten im Jahr 2019 auf 1300.
Auch Filmstars waren anwesend, allerdings nicht die übliche Glamour-Schar. Auf der Piazza waren der amerikanische Regisseur Todd Haynes, die Multimedia-Pionierin Laurie Anderson, Costa-Gavras, der Meister des Politthrillers, Jason Blum, amerikanischer Produzent ultrabilliger Horrorfilme, der Schauspieler Aaron Taylor-Johnson, ein aufstrebender Star, und der Schauspieler und Regisseur Matt Dillon, bekannt aus «Outsiders» und «Drugstore Cowboy». Der 1987 verstorbene Kultregisseur Douglas Sirk wurde mit einer Gedenkveranstaltung geehrt.
Allen diesen besonderen Gästen ist gemeinsam, dass sie ihren Ruf auf der Bereitschaft aufgebaut haben, im Interesse ihrer Kunst Risiken einzugehen – in kreativer, politischer und kommerzieller Hinsicht.
Ein mutiges Programm
Als Nazzaro Anfang Juli das diesjährige Programm vorstellte, war eine der auffälligsten Änderungen die Abschaffung einer Sparte, die experimentellen Filmen gewidmet war und die den Hardcore-Filmfans sehr am Herzen lag.
2014 hatte sie der damalige Festivaldirektor Carlo Chatrian (der derzeit die Berliner Filmfestspiele leitet) unter dem Namen «Signs Of Life» ins Leben gerufen. Seine Nachfolgerin Lili Hinstin führte sie unter dem Namen «Moving Ahead» weiter worden.
In der Sparte wurden nicht nur experimentelle Projekte gezeigt, die in keinen kommerziellen Rahmen passten, sondern auch Werke von bildenden Künstlerinnen und Künstlern, die eher für zeitgenössische Kunstgalerien und Museen geeignet sind.
Auf den ersten Blick schien es, als würde Nazzaro eine eher unterhaltsame und genrespezifische Auswahl treffen wollen. Doch sobald die Filme im Wettbewerbsprogramm auftauchten, wurde klar, dass der künstlerische Leiter die Mauer zwischen «experimentellen» und «theatralischen» Werken bewusst eingerissen hat.
Mehr als die Hälfte der im Wettbewerb ausgewählten Filme können nicht einfach als Arthouse-Filme eingestuft werden, sondern weisen in ihren Erzählungen radikale Brüche auf. So etwa der brasilianische Film «É Noite na América» («Es ist Nacht in Amerika») der Regisseurin Ana Vaz.
Bei dem in Locarno gezeigten Film handelt es sich um die Kinoversion eines Werks, das auch für Kunsträume bestimmt ist. Dort wird es auf drei Leinwänden gezeigt. Im in einem rauen Dokumentarstil gedrehten Film geht es um wilde Tiere, die in der Grossstadt verloren gehen, weil ihr Lebensraum zunehmend von der städtischen Entwicklung aufgefressen wird.
In einem Interview mit swissinfo.ch begrüsste Vaz die kühne Entscheidung Nazzaros und betonte, dass «diese Trennung nur bestätigt, was die Industrie verlangt. Diese Marginalisierung hat immer die Tendenz, eine Dualität zwischen einer sehr starken Industriemaschine einerseits und dieser Art von Image zu schaffen, das immer am Rande stehen wird».
Für Vaz ist es «sehr wichtig, dass dieser Rand auch die andere, traditionalistischere und linearere Dimension durchbrechen kann, um die notwendigen Reibungen für eine echte Entwicklung der Hinterfragung des Kinos zu schaffen».
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Von Schrecken und Faschismus
Filme, die auf eine ungewöhnliche Erzählweise setzen, sind sicherlich keine Publikumslieblinge, wie der deutsch-französische Film «Human Flowers Of The Flesh» von Helena Wittmann oder «Fairytale» des russischen Veteranen Alexander Sokurow.
Wittmann nervte das Publikum mit der losen und undefinierten Suche einer Frau nach Spuren der französischen Fremdenlegion in Nordafrika, während Sokurow ein traumähnliches Fegefeuer schuf, in dem sich Napoleon, Winston Churchill, Adolf Hitler, Benito Mussolini, Josef Stalin und sogar ein müder Jesus Christus in Gesprächen verlieren, während sie auf eine Art Endurteil warten.
Sokurov verwendete echtes Filmmaterial der Diktatoren (einschliesslich Churchill, schliesslich war das britische Empire nicht gerade ein wohlwollender Kolonisator) und Aufzeichnungen ihrer Reden und manipulierte sie bis zum Äussersten.
Die computergenerierten Bilder und die bedrohliche Musik sind absichtlich so gestaltet, dass sie Unbehagen hervorrufen. Besonders, wenn Wellen von mittellosen Menschen (Opfer der Diktatoren oder deren Apostel?) den Gezeiten von Sokurows Betrachtungen über die menschlichen, alltäglichen Gesichter des Grauens folgen.
Das Thema liegt Sokurow besonders am Herzen. Er erzählte in Locarno, wie sein ganzes Leben vom Zweiten Weltkrieg geprägt wurde. In Russland befindet er sich nun in einer heiklen Lage, weil er sich gegen den Krieg in der Ukraine ausgesprochen hat.
Die vielfältigen Ausprägungen des heutigen Faschismus stehen auch im Zentrum mehrerer anderer Filme im Wettbewerb, wie etwa des angolanisch-portugiesischen Werks «Nação Valente» («Tapfere Nation»), der auf Englisch als «Tommy Gun» erscheint.
Der Film spielt im letzten Jahr des angolanischen antikolonialen Kriegs (1974) und beschränkt sich nicht auf das Thema Kolonialismus, wie Regisseur Carlos Conceição gegenüber swissinfo.ch sagt.
«Jedes Land hat seine eigene Form des Faschismus», sagt er. «Im portugiesischen Faschismus waren Kolonialismus und Entkolonialisierung eng miteinander verwoben. Mein ursprüngliches Ziel war also, einen Film zu drehen, der die absurde Verbreitung dieser alten, uralten Ideen in Frage stellt, die immer noch eng mit Rassen- und Machtvorurteilen verbunden sind – nicht zuletzt wegen der Probleme nach dem Kolonialkrieg.»
Die Zeitgenossenschaft der Vergangenheit
Eine weitere, perfekt getimte Wahl Nazzaros war die Retrospektive von Douglas Sirk (1897 – 1987), dem ultimativen Meister des Melodrams. Sirk, der von so unterschiedlichen Regisseuren wie dem Amerikaner John Waters und dem Deutschen Rainer W. Fassbinder verehrt wird, ist Gegenstand mehrerer neuer Bücher und Dokumentarfilme, die eine unglaubliche Zeitgenossenschaft offenbaren.
Für Sirk-Fans, sowohl für die berühmten (wie Todd Haynes, der in der ersten Reihe des Kinos gesehen wurde) als auch für das allgemeine Publikum, und sogar für die Fachleute, die an der Restaurierung von Sirks Filmen beteiligt sind, war es das erste Mal, dass sie seine früheren Filme auf einer grossen Leinwand sehen konnten.
Diese hatte er in Deutschland und Holland gedreht, bevor er in die Vereinigten Staaten auswanderte. Es ist gut möglich, dass diese Retrospektive, zumindest in Teilen, bald in den Programmkinos der Schweiz und anderer europäischer Länder zu sehen sein wird.
In der Zwischenzeit wird das Schweizer Publikum bald in den Genuss des neuen Dokumentarfilms «Douglas Sirk – Hope As In Despair» von Roman Hüben kommen. Der Film hatte nur eine Woche nach dem endgültigen Schnitt seine Premiere am Festival.
Globale, kreative Vernetzung
Nazzaros Bemühungen um eine Neupositionierung des Filmfestivals Locarno konnten auch von parallelen Projekten profitieren, die von früheren künstlerischen Leitenden initiiert worden waren.
Diese zielten darauf ab, ein internationales kreatives Zentrum zu schaffen, welches das ganze Jahr über aktiv ist. Die Sparte «Open Doors» zum Beispiel ist eine Plattform für Filmschaffende aus Ländern mit «besonders schwierigen» Filmumgebungen, also aus den ärmsten Teilen der Welt.
Sie läuft bereits seit 20 Jahren in dreijährigen Modulen, die jeweils eine bestimmte Region in den Blick nehmen. In diesem Jahr lag der Schwerpunkt auf Lateinamerika und der Karibik.
Filmemachende aus Kuba, Venezuela, Ecuador, Guatemala, der Dominikanischen Republik, Paraguay und Bolivien verliessen Locarno mit gut gefüllten Adressbüchern. Und einige auch mit beträchtlichen Geldzuschüssen zur Entwicklung ihrer Filmprojekte.
Rückblickend auf die letzten zehn Tage war das Filmfestival von Locarno ein wildes Fest der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft des Kinos, bei dem die Cinephilie die unbestrittene Siegerin war. Auch für diejenigen, die nicht so sehr vom Kino besessen sind.
Es muss auch betont werden, dass das Festival wie das Kino ein kollektives Unterfangen ist. Aber Giona Nazzaro hat sich nicht gescheut, das Risiko einzugehen, eine Richtung einzuschlagen, die das Vergnügen des kinobegeisterten Publikums ernsthaft respektiert und sich damit gegen den Trend in der Welt der Filmfestivals stellt. Das sollte als Beispiel für seine Kolleginnen und Kollegen dienen.
«Critics Academy» bringt ein neues Filmmagazin heraus
Die «Locarno Academy» ist eine weitere erfolgreiche Initiative, die angehende Filmschaffende («Industry Academy») und Autorinnen/Kritiker («Critics Academy») aus der ganzen Welt zu einer intensiven Erfahrung zusammenbringt. [Disclaimer: SWI swissinfo.ch ist einer der Medienpartner der «Critics Academy» und bietet eine Plattform, um deren Arbeiten während des Festivals zu veröffentlichen. Einige der Teilnehmenden sind zu regelmässigen Mitarbeitenden geworden.]
In diesem Jahr haben ehemalige Mitglieder der «Critics Academy» und ihr Koordinator, der britische Kritiker und Filmemacher Christopher Small, während des Festivals die erste Ausgabe der Filmzeitschrift «Outskirts» herausgebracht. Das unabhängig produzierte Magazin widmet sich einem Kinouniversum, das vom Mainstream an den Rand gedrängt wird.
Diese erste Ausgabe enthält auch ein umfangreiches Dossier über den sowjetischen Filmemacher Boris Barnet (noch nie von ihm gehört? Damit sind Sie nicht allein, aber das Dossier von «Outskirts» ist das Ergebnis einer sorgfältigen und leidenschaftlichen Recherche).
Die Hauptattraktion von «Outskirts» ist jedoch die internationale Perspektive, denn die Mitherausgebenden und Mitarbeitenden kommen aus verschiedenen Ländern und Sprachen.
«Filmzeitschriften, selbst die international einflussreichsten, hatten immer einen nationalen Standpunkt», sagt der dominikanische Kritiker und Filmemacher Diego Cepeda, einer der Mitherausgebenden. «‹Outskirts› hat keine Nationalität», fügt er an. Oder besser gesagt, es ist ein legitimes Kind Locarnos.
Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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