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“Nein heisst Nein”: Schweiz aktualisiert ihre Definition von Vergewaltigung

Frauen protestieren gegen sexualisierte Gewalt
Teilnehmerinnen an einer Kundgebung im Rahmen des Internationalen Tags gegen sexualisierte und sexuelle Gewalt 2023 in Genf. (KEYSTONE/Martial Trezzini) © Keystone / Martial Trezzini

In der Schweiz gilt ab dem 1. Juli 2024 das neue Sexualstrafrecht. Dies gab die Regierung Anfang Januar bekannt. Die mit Spannung erwartete Gesetzgebung bedeutet das Ende der sehr eng gefassten aktuellen Definition von sexueller Nötigung und Vergewaltigung.

Die Schweiz wurde von der Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt kritisiert: Obwohl sie die die sogenannte Istanbul-Konvention unterzeichnet hat.

Die Kritikpunkte: Damit sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung als Straftat gilt, verlangt das bisher geltende Schweizer Strafrecht Drohungen, Gewalt oder psychischen Druck. Und vor allem wird nur die nicht einvernehmliche vaginale Penetration einer Frau durch einen Mann als Vergewaltigung betrachtet.

Damit ist bald Schluss: Nach dem neuen Gesetz ist Gewalt keine Voraussetzung mehr, und jede nicht einvernehmliche orale, vaginale oder anale Penetration eines Manns oder einer Frau wird als Vergewaltigung eingestuft.

“Das revidierte Sexualstrafrecht in der Schweiz ist ein wichtiger Meilenstein im Vergleich zur veralteten Gesetzgebung, die den Straftatbestand der Vergewaltigung sehr eng definierte und den Opfern sexueller Gewalt regelmässig Unrecht zufügte”, sagt Cyrielle Huguenot, Frauenrechtlerin bei der Schweizer Sektion von Amnesty International, gegenüber SWI swissinfo.ch.

Heikle Frage der Zustimmung

Ein Aspekt des neuen Gesetzes, der das Schweizer Parlament spaltete, war die Frage der Zustimmung. Der Nationalrat (Volkskammer) sprach sich für einen affirmativen Ansatz aus, der auch als “nur Ja heisst Ja” bekannt ist.

Dies bedeutet, dass der entscheidende Faktor die auf dem freien Willen beruhende Zustimmung ist. Nach diesem Modell des Einvernehmens können Passivität – auch Freezing genannt – Schweigen, fehlende Zustimmung oder Widerstand nicht als Zustimmung gewertet werden.

Insgesamt 14 Länder in der Europäischen Union (EU) haben das Modell “Nur Ja heisst Ja” mit unterschiedlichem Verständnis der Einwilligung übernommen. Schweden und Irland gehen noch weiter, indem sie auch die Umstände berücksichtigen, unter denen die Einwilligung gegeben wurde, während Portugal und Zypern immer noch einige Elemente von Zwang verlangen.

Explizites Nein

Der Ständerat hingegen, die Kammer der Kantonsvertreter:innen, wollte den “Nein heisst Nein”-Ansatz. Das heisst, dass Einwilligung auf einer strikten Ablehnung beruht.

Bei diesem Modell müssen die Opfer ihre Ablehnung verbal oder durch Handlungen zum Ausdruck bringen. Und das lässt einen gewissen Graubereich offen.

Die Nachbarländer Deutschland und Österreich haben sich für dieses Modell entschieden, das sexuelle Handlungen, die gegen den Willen einer Person erfolgen, unter Strafe stellt.

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“Es hat sich gezeigt, dass das ‘Ja heisst Ja’-Modell die Menschenrechtsprinzipien der sexuellen Autonomie und der körperlichen Unversehrtheit besser schützt”, sagt Irene Rosales, Referentin für Politik und Kampagnen bei der Europäischen Frauenlobby.

Letztendlich hat sich in der Schweiz die “Nein heisst Nein”-Lösung durchgesetzt. Im traditionellen Schweizer Geist des politischen Kompromisses wird das neue Gesetz jedoch den Schockzustand des Opfers berücksichtigen.

Die Schweiz ist nicht das einzige Land in Europa, das gezwungen ist, einen Konsens zu finden.

Die Definition von Vergewaltigung tauchte wieder auf, als die Europäische Kommission am 8. März 2023, dem Internationalen Tag der Frauenrechte, vorschlug, die Regeln für eine Reihe von Sexualdelikten, darunter auch Vergewaltigung, EU-weit zu vereinheitlichen.

Bei den Verhandlungen zwischen dem Europäischen Parlament, der Europäischen Kommission und dem Europäischen Rat im Dezember konnte jedoch keine Einigung erzielt werden.

Sowohl das Europäische Parlament als auch die Europäische Kommission wollten eine Definition von Vergewaltigung nach dem Modell “Nur Ja heisst Ja”.

Uneinigkeit herrschte im Europäischen Rat: Belgien, Italien und Spanien waren dafür, 17 andere Länder dagegen, darunter Ungarn und Polen, aber auch Frankreich und Deutschland.

Wenn das Opfer vor Angst wie gelähmt und nicht in der Lage ist, seine Ablehnung auszudrücken oder sich zu verteidigen, sich also im Zustand des Freezings befindet, muss sich die Täterschaft wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung verantworten.

Nach Ansicht von Huguenot von Amnesty International ist dieser Kompromiss zwar nicht ganz so weitreichend wie das Modell “Nur Ja heisst Ja”. Aber er kommt ihm doch recht nahe, vor allem, was die Rechtsprechung betrifft.

“In der Rechtsprechung wird es wahrscheinlich kaum einen Unterschied zur Lösung ‘Nur Ja heisst Ja’ geben. Für die Präventionsarbeit ist es aber eindeutig eine verpasste Chance. Sex erfordert immer ein ‘Ja’ von allen Beteiligten, und das muss in den Köpfen der Menschen verankert werden”, sagt sie.

Editiert von Virginie Mangin; Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi

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