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Verletzte Kinder und Jugendliche aus Gaza werden in der Schweiz behandelt

Gaza children arrive to Geneva
Ankunft des verletzten 16-jährigen palästinensischen Jungen aus dem Gazastreifen. Zusammen mit drei anderen verletzten jungen Kriegsopfern wird er in Genf chirurgisch behandelt. Nicolas Dupraz pour « Le Temps »

Vier junge Opfer des israelisch-palästinensischen Kriegs im Alter zwischen 14 Monaten und 17 Jahren sind kürzlich aus dem Gazastreifen in Genf eingetroffen. Dort werden sie medizinisch versorgt.

Die vier verletzten Kinder haben von den Schweizer Behörden ein Visum für 90 Tage erhalten, damit sie in einer Genfer Privatklinik chirurgisch behandelt werden können.

Unter ihnen sind zwei Schwestern im Alter von sechs und sieben Jahren mit Knochenbrüchen und Verbrennungen zweiten und dritten Grades, wie der öffentlich-rechtliche Westschweizer Rundfunk RTS berichtete. Bei den Mädchen ist ein Teil der Haut so stark geschädigt, dass das Gewebe abstirbt. Ein 16-Jähriger, dem bei einer Explosion ein Teil seiner Wade weggerissen wurde, benötigt eine plastische Operation.

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Die Unterstützung der kriegsgeschädigten Kinder aus dem hart umkämpften Gazastreifen wurde von Nichtregierungsorganisationen ermöglicht. Es handelt sich um eine Initiative der drei NGO Children’s Right for Healthcare, Caravanes Solidaires und Union of Syrian Medical Relief Organizations (UOSSM International).

Damit unterscheidet sie sich von den staatlichen Bemühungen wie jene Frankreichs und Italiens: Die beiden Länder haben sich verpflichtet, 50 beziehungsweise 100 verletzte Kinder aus dem Gazastreifen aufzunehmen und zu behandeln.

UOSSM International hat eine Fundraising-Kampagne gestartet, um eine grösser angelegte Initiative zu ermöglichen.

Ein humanitärer Auftrag

Raouf Salti, Gründer und Vorsitzender von Children’s Right for Healthcare und Urologe in Genf, war eine Schlüsselfigur für das Zustandekommen der Schweizer Hilfe. Salti wurde im syrischen Damaskus als Sohn palästinensischer Kriegsflüchtlinge von 1948 geboren.

Er hat in Frankreich studiert und praktiziert, bevor er Ende 2011 in die Schweiz übersiedelte. Seine Verbundenheit mit der Region und ihren Bewohner:innen ist stark von der Vertreibungsgeschichte seiner eigenen Familie geprägt.

Im Jahr 2018 sass Salti während eines Einsatzes im Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza fest, als der Krieg ausbrach. Die Verwüstung und den Verlust von Menschenleben mitzuerleben, hat ihn sehr betroffen gemacht.

“Wenn ich sehe, was dort gerade passiert, versetze ich mich in die Lage eines kleinen Kindes und stelle mir vor, wie es sich fühlen muss”, sagt er gegenüber SWI swissinfo.ch.

Raouf Salti
Raouf Salti, Gründer und Leiter des Hilfswerks Children’s Right for Healthcare. Er arbeitet als Urologe in einem Genfer Spital. Nicolas Dupraz pour « Le Temps »

Am 24. November 2023 reiste Salti nach Kairo, um Yvonne Baumann, die Schweizer Botschafterin in Ägypten, zu treffen. “Die Zusammenarbeit mit der Botschafterin hat dieses Projekt ermöglicht. Dank ihm konnten erstmals Kinder aus dem Gazastreifen zur medizinischen Behandlung in ein europäisches Land gebracht werden”, sagte er.

Das Auswahlverfahren für die Kinder basierte auf den medizinischen Interventionen, die Salti anbieten konnte. Der ganze Prozess erfolgte in Abstimmungen mit verantwortlichen Stellen in Gaza.

Komplizierte Ausreise

Die Beschaffung von Visa für die Kinder aus dem Gazastreifen und ihre drei Mütter war kompliziert. Dazu war ein intensiver Kontakt mit den Schweizer Regierungsstellen notwendig. Der Durchbruch gelang am 22. Dezember, als das Staatssekretariat für Migration (SEM) der Ausstellung der beantragten Visa zustimmte.

Salti betont, dass die ausgestellten Visa für eine medizinische Behandlung bestimmt sind. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) bestätigte diese Information und teilte SWI per E-Mail mit, dass es sich bei den in diesem Fall ausgestellten Visa nicht um humanitäre Visa handelt, sondern um Visa aus medizinischen Gründen, die auf 90 Tage begrenzt sind.

Palestinian woman and her little son
Seltener Moment der Ruhe und des Glücks im Gazastreifen: Raneen Annaba, eine 23-jährige Palästinenserin, spielt mit ihrem fünf Monate alten Sohn Sanad Baraka im Nasser-Krankenhaus in Khan Yunis. Keystone / Haitham Imad

Wie die Neue Zürcher Zeitung im Juli 2022 berichtete, hat die Schweiz nach der Invasion Russlands in der Ukraine angeboten, verletzte Zivilistinnen und Zivilisten, eingeschlossen Kinder und Nichtkombattanten, medizinisch zu versorgen.

Das SEM erklärte gegenüber SWI, dass die Situation in der Ukraine nicht mit derjenigen in Palästina verglichen werden könne. “Ukrainerinnen und Ukrainer benötigen für einen Aufenthalt von 90 Tagen im Schengen-Raum kein Visum und können sich daher frei bewegen”, so das SEM.

Ursprünglich sollten 15 Kinder aus Gaza in die Schweiz kommen. Aus verschiedenen Gründen waren es jetzt nur deren vier. Wegen dringender sofortiger Behandlungen, der Evakuierung nach Ägypten oder in die Türkei – oder durch Versterben – war der Transport nicht für alle möglich.

Sechs weitere Kinder aber werden laut Salti noch in Genf erwartet, sobald die israelischen Behörden die Erlaubnis zur Ausreise erteilt hätten.

Ein “schreckliches Gefängnis”

In Genf sind die palästinensischen Kinder bei Gastfamilien untergebracht, bis die medizinischen Eingriffe erfolgen. Raouf Saltis Projekt zielt nicht allein auf die medizinische Versorgung ab, sondern auch darauf, den verletzten Kindern einen Ausweg aus dem “schrecklichen Gefängnis” ihrer Lebensumstände zu bieten, die vom Krieg bestimmt sind.

Seine zweite Absicht: Mit seiner Initiative andere europäische Länder zu ermutigen, diesen Opfern zu helfen.

“Ich fordere Europa auf, zwischen Menschlichkeit und Politik zu unterscheiden”, sagte er gegenüber SWI und rief andere Nationen dazu auf, “nicht länger schweigend zuzusehen, sondern zu helfen”.

Neben Salti ist auch Tawfik Chamaa, ein Arzt der UOSSM am Projekt beteiligt. In einem Interview mit RTS drückte er die Hoffnung aus, dass weitere verletzte Kinder aus dem Gazastreifen zur Behandlung in die Schweiz kommen könnten. Dies könne auch andere europäische Länder ermutigen, ihrem Beispiel zu folgen. Laut Chamaa solle die Betreuung von verletzten Kindern für europäische Länder zum Prinzip werden.

“Wir befinden uns am Krankenbett der Menschheit. Kinder sterben, weil sie nicht medizinisch versorgt werden”, sagt Chamaa.

Editiert von Reto Gysi von Wartburg; Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi

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