
Schaupieler Sven Schelker über das Spiel mit Identitäten

Im Film "Stiller" nach dem Romanklassiker von Max Frisch spielt der Basler Schauspieler Sven Schelker die Hauptrolle - zumindest zur Hälfte. Ein Gespräch über die Nähe zu einer Rolle, toxische Männlichkeit und einen Kniff des Regisseurs.
(Keystone-SDA) Die Hauptfigur im Film «Stiller» gibt seinem Umfeld nach mehrjährigem Verschwinden vor, jemand anderes zu sein. Sie sind Schauspieler: Für wie realistisch halten Sie es, im echten Leben damit durchzukommen?
Schelker: «Der Faktor Zeit spielt sicher eine Rolle. Nach einer Abwesenheit von einer Woche würde sicher keiner glauben, dass man jemand anderes ist. Je mehr Zeit seit dem letzten Wiedersehen vergeht, desto mehr können sich Erinnerungen jedoch verändern oder gar auflösen. Das würde einem sicher zugute kommen, sollte man so etwas probieren wollen. Ich persönlich hatte allerdings noch nie das Bedürfnis, mich als jemand anderes auszugeben. Ausser im Beruf natürlich.»
Sind Sie mit einer Rolle schon einmal derart verschmolzen, dass Sie ihre wahre Persönlichkeit hin und wieder vergassen?
Schelker: «Nein, das ist mir noch nie passiert. Ich betrachte es eher kritisch, wenn man sich selber an einen Punkt bringt, von dem aus man nur noch schwer zu sich zurückkehren kann. Es gibt eine bestimmte Technik, mit der Schauspielende das erreichen können, aber ich will nicht so arbeiten. Was mich allerdings oft nicht loslässt, sind Schicksale von Figuren. Oder Geschichten, die Bezug zur eigenen Realität haben.»
Können Sie ein Beispiel nennen?
Schelker: «Bruno Manser, ganz klar (Sven Schelker spielte den Umweltaktivisten in «Bruno Manser – Die Stimme des Regenwaldes», Anm. d. Red). An diesem Film habe ich bisher am intensivsten gearbeitet, da es sich über einen grossen Zeitraum zog. Wir waren fast vier Monate im Dschungel und drehten mit wirklichen Penan – und für die war ich sehr schnell Bruno. Dadurch, aber auch, weil sein Vermächtnis noch immer hochaktuell ist, hatte ich Mühe, mich von der Thematik zu distanzieren. In diesem Fall will ich es allerdings auch nicht.»
Das heisst, diese Rolle hat noch immer Einfluss auf Ihr Leben?
Schelker: «Ja, indem ich mir weiterhin bewusst bleibe, dass wir in Naturschutzfragen alle Verantwortung tragen. Ich engagiere mich zwar im Kleinen. Aber ich möchte es unbedingt Engagement nennen, wenn man auf Nachhaltigkeit achtet.»
In «Stiller» geht es um Themen wie Identität und die Suche nach dem Ich. Inwiefern betrachten Sie den Film als Liebesfilm?
Schelker: «In dem Lebensabschnitt Stillers, den ich spiele, geht es um das Verlieben, die Hochzeit und das gemeinsame Leben. Natürlich ist die Liebe da ein grosses Thema. Den Film als Liebesfilm zu interpretieren, wäre mir allerdings zu zweidimensional. Es geht um viel mehr, allem voran um mehrere Beziehungen und Schicksale, die miteinander verwoben sind. Ich würde nicht von einem Liebesfilm sprechen.»
Es geht vor allem auch um toxische Männlichkeit, was aber nicht ganz so deutlich gemacht wird.
Schelker: «Ich finde schon. Als ich den Film das erste Mal sah, nahm ich eher die Perspektive von Stillers Ehefrau Julika ein. Genau wie sie, fragte ich mich immer wieder: Ist das, was er da erzählt wahr oder nicht? Und gerade in den Rückblenden kommt Stiller oft forsch und egoistisch rüber – man spürt deutlich, wie er unter anderem Gaslighting betreibt. Beim Lesen des Drehbuchs habe ich das noch nicht so deutlich wahrgenommen wie später im Film.»
Über Menschen, die Stiller inszenieren, liest man oft, sie seien mutig, sich an dieses Werk heranzuwagen.
Schelker: «Wenn sich jemand an ein so bekanntes Werk heranwagt, ist das sicher mutig, weil viele Leute einen persönlichen Bezug und eine Meinung haben. Beides ist mit hohen Erwartungen verknüpft. Ich kann mir aber noch einen anderen Grund vorstellen, warum das Buch so lange nicht verfilmt worden ist: Sobald man visuell zwei Leute nebeneinander stellt, ist sofort klar, ob es sich um die gleiche oder zwei verschiedene Personen handelt. Stefan Haupt hat einen sehr, sehr tollen Kniff gefunden. Und seine Idee, die Rolle doppelt zu besetzen, finde ich mutig, weil es extrem schwierig ist.»
Sie teilen sich die Rolle mit Albrecht Schuch, der Ihnen im Film sehr ähnlich sieht. Wie viele Gesichtsabgleiche waren nötig, bis diese Kombination gefunden war?
Schelker: «Ich war nicht in den Prozess involviert, aber ganz sicher war das ein sehr gutes Casting. Letztlich sind wir uns aber nur an zwei Drehtagen begegnet. Wir haben im Vorfeld also keine Handbewegungen oder eine bestimmte Gangart von Stiller vereinbart. Wir haben einfach aufeinander vertraut.»
Identität und Selbstfindung im Film «Stiller»
Ist James Larkin White Anatol Stiller – oder nicht? Um diese Frage geht es im Roman von Max Frisch und in der Verfilmung von Stefan Haupt («Zwingli», «Der Kreis»). Doch im Vergleich zur Romanvorlage beschränkt sich der Film «Stiller» auf des Wesentliche.
Ein Zug fährt durch eine neblige Gegend. Undurchsichtig ist auch die Persönlichkeit von Anatol Stiller, der Hauptfigur in Max Frischs Roman «Stiller» (1954), der Vorlage der gleichnamigen Verfilmung von Stefan Haupt.
Doch vorerst geht es um einen Mann namens James Larkin White (Abrecht Schuch). Von einem Zugmitfahrenden wird er als der längst verschollene Bildhauer Anatol Stiller identifiziert und deshalb am Bahnhof Zürich festgenommen. Denn Stiller werden kriminelle Machenschaften vorgeworfen. Doch White streitet ab, diesen Stiller zu kennen, geschweige denn, Stiller zu sein.
Der Autor Frisch hat den Ablauf der Geschichte und die inneren Monologe des Protagonisten seinerzeit dicht niedergeschrieben. Grob fasst Regisseur Haupt den Kern des Literaturklassikers für die grosse Leinwand zusammen. Das ist sinnvoll. Haupt orientiert sich am Wesentlichen: der Festnahme, der Frage, ob es sich dabei um eine Verwechslung handelt oder nicht, und der Beziehung zwischen Stiller (jung: Sven Schelker) und seiner Ehefrau Julika (Paula Beer). Den zweiten Teil des Romans lässt er schlicht weg.
So bleiben die Figuren und deren Beweggründe für das Kinopublikum zwar eindimensionaler als für die Lesenden des Originaltexts. Doch der Film reicht allemal, um angeregte Diskussionen über Identität und Selbstfindung loszutreten. Am 16. Oktober startet der Film in den Deutschschweizer Kinos.*
*Das Interview und die Filmkritik von Miriam Margani, Keystone-SDA, wurden mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.