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Jonas – Bauer für zwei Wochen

Das Tränken der Kälber gehört zu Jonas' liebsten Beschäftigungen. swissinfo.ch

Während des 2. Weltkriegs diente der Landdienst der Versorgung im Land. Heute bietet der Freiwilligen-Dienst Jugendlichen die Möglichkeit, auf einem Bauernhof zu arbeiten. swissinfo hat den 15-jährigen Landdienstler Jonas auf einem Bauernhof besucht.

«Hast du keine Stiefel mitgebracht? Oder wenigstens Bergschuhe?», fragt mich Heidi, die Chefin des Bauernhofs. Ich schaue meine weissen Schuhe an. Wie peinlich! Jonas ist hingegen perfekt ausgerüstet: Stiefel bis zum Knie, ein Overall und Hut.

Seit fünf Tagen arbeitet Jonas auf dem Bauernhof der Familie Eschler in Gschwend im Berner Oberland. Der junge Mann, der in der Stadt Bern aufgewachsen ist und lebt, macht den Eindruck, mit der Situation vertraut zu sein. Kein Wunder: Er kommt schon zum zweiten Mal für zwei Wochen zur Familie Eschler.

«Jonas ist eine Ausnahme: Es war sein Wille, zu uns zu kommen. Normalerweise werden die Jugendlichen von der Schule gezwungen, zwei Wochen auf dem Bauernhof zu arbeiten», sagt Heidi. Und sie weiss, wovon sie spricht. Etliche Jugendliche aus der Stadt hat man ihr geschickt. Sie erinnert sich nicht an alle Namen, aber an unzählige Anekdoten.

«Der Erste kam 1988. Er hiess Michael. Mit einem jungen Mann aus Spanien sind wir immer noch in Kontakt. Er hat uns seine Heiratsanzeige und die Geburtsanzeige seines ersten Kindes geschickt. Ein anderer Junge brachte spezielle Nahrungsmittel mit, um sein Bodybuilding fortführen zu können», lacht die Bauersfrau.

Viel Energie – wenige Worte

Bei Jonas verhält es sich anders. Er will Bauer werden. «Gestern erhielt ich die Zusage, dass ich eine Ausbildung auf einem Bauernhof in der Nähe Berns beginnen kann», sagt er mit sichtlicher Zufriedenheit.

Der 15-Jährige spricht nicht viel. Dafür sprechen seine Gesten. Im Umgang mit den Kühen oder mit Sense und Rechen braucht es keine langen Diskurse. Dafür braucht es viel Wille, diese Arbeit zu tun. Doch bei ihm ist das kein Problem.

«Ich weiss nicht, woher er die ganze Energie nimmt. Er ist nie müde, auch wenn er früh morgens beginnt und bis zum Sonnenuntergang arbeitet», sagt Jakob, der Herr im Hause.

Für das Bergbauernpaar ist die Hilfe junger Leute auf dem Hof unverzichtbar. Ohne diese Unterstützung hätten sie Mühe, durch die Sommersaison zu kommen, wenn viel geheut werden muss. «Wir haben nicht genug Arbeit, um einen Arbeiter anzustellen. Die Jungen erlauben es uns, mal durchzuatmen», sagt Heidi.

Der Aufenthalt auf dem Bauernhof ist alles anders als Urlaub. Wer glaubt, 14 Tage auf der faulen Haut liegen zu können und sich in der Sonne zu bräunen, wird schnell eines Besseren belehrt. Vielleicht kehren die jungen Menschen mit Blasen an den Händen nach Hause zurück, sicherlich aber mit vielen neuen Erfahrungen.

Im Krieg obligatorisch – heute freiwillig

Vom Landdienst sprach man erstmals in den 1920er-Jahren, als unter Intellektuellen und Jungen eine Technikfeindlichkeit weit verbreitet war. Gleichzeitig gab es eine romantische Sichtweise vom Landleben. Und so kam es, dass man den Bauern im Sommer beim Heuen half.

Während der Wirtschaftskrise in den 1930er-Jahren wurde diese freiwillige Hilfe institutionalisiert. Dafür gründete man die Schweizerische Zentralstelle für freiwilligen Arbeitsdienst (ZEFAD). Diese Zentralstellte half, für die vielen arbeitslosen Jungen eine Beschäftigung zu finden.

Zwischen 1933 und 1939 wurden 450 Arbeitslager organisiert, an der rund 20‘000 Jugendliche freiwillig teilnahmen. Sie legten Bergwege an, halfen bei der Landgewinnung oder bei archäologischen Ausgrabungen im ganzen Land.

Mit dem Beginn des 2.Weltkriegs wurden alle wehrpflichtigen jungen Männer einberufen. Dies hatte zur Folge, dass auf dem Land Arbeitskräfte fehlten. Schüler und Freiwillige halfen aus.

Ab 1941 wurde dieser Dienst obligatorisch für alle Frauen und Männer, Flüchtlinge und Emigranten, auch für Auslandschweizer, die in ihre Heimat zurückkehrten. Die Landwirtschaft verfügte so über zusätzliche 100‘000 Arbeitskräfte.    

Annäherung der Städter ans Land

Diese Dienstpflicht auf dem Lande wurde 1946 aufgehoben. In vielen Schulen blieb der obligatorische Landdienst aber noch Teil der Lehrpläne. Es ging darum, vor allem die jungen Leute in den Städten dem Landleben anzunähern. Im Jahr 2009 waren es fast 2700 Heranwachsende, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machten.

Auf dem Bauernhof der Familie Eschler haben in den letzten 23 Jahren etliche  Jugendliche diese Erfahrung gemacht. «Es war nicht immer leicht für sie. Sie müssen sich auch an die starken und teils penetranten Gerüche auf dem Land gewöhnen. Auch die frische Milch schmeckt hier anders als aus der Packung im Supermarkt», betont Heidi.

Wir sitzen in der Stube einer Hütte auf Flühweid, einer Alp über Gschwend im Berner Oberland. Jonas trinkt Milchkaffe aus einer Schale und geniesst ein Stück Brot mit Käse. Es ist vier Uhr nachmittags, er muss sich noch für den Rest des Tages stärken.

«Nachdem wir die Kühe gemolken haben, müssen wir die Kälber rauslassen und tränken. Sie waren den ganzen Tag im Stall, damit sie nicht von Bremsen und Fliegen malträtiert werden», sagt der junge Mann.

Um 19 Uhr werden die Schatten auf der auf 1450 Meter gelegenen Alp länger. Der Stall ist frisch gestreut, die Milchkannen stehen im Brunnen. Jonas und Jakob nehmen die Axt, um Holz zu spalten.

Ich ziehe die Stiefel aus und meine eigenen Schuhe wieder an -und lasse einen idyllischen Ort hinter mir und auch das Glockengeläut der Kühe auf der Weide.

Im Jahr 2011 gab sich der Landdienst einen neuen Namen: Agriviva. Es ist die Kurzform von «Agricoltura è viva» (Lebendige Landwirtschaft).

Agriviva richtet sich an junge Menschen zwischen 14 und 25 Jahren.

Um auf einem Bauernhof zu arbeiten, braucht es keine Vorkenntnisse. Wichtig sind das Interesse an dieser Tätigkeit und die Bereitschaft, im Freien zu arbeiten. 

Der Mindestaufenthalt beträgt zwei Woche im Sommer, der Maximalaufenthalt zwei Monate.

In der ganzen Schweiz gibt es 300 Höfe, die junge Menschen im Rahmen dieses Programms aufnehmen.

Für 14-Jährige beträgt die Arbeitszeit pro Woche maximal 40 Stunden, für über 18-Jährige  48 Stunden.

Die Landdienstler erhalten Unterkunft, Verpflegung und Taschengeld, das von 12 Franken am Tag für die jüngeren bis zu 20 Franken für die älteren Teilnehmer reicht.

Das Jahreseinkommen der Landwirte ist im Vergleich zum Jahr 2009 um 6% gesunken und erreicht durchschnittlich 60‘000 Franken im Jahr. Der Agrarbericht 2010 zeigt zudem auf, dass nicht-landwirtschaftliche Tätigkeiten immer wichtiger werden.

Gemäss dem Bericht ist das Erwerbs-Einkommen im Mittelland und den tiefer gelegenen Gebieten stärker zurückgegangen als in den Berggebieten, wo die Bergbauern von Direktzahlungen profitieren.

Eine weitere Erkenntnis: Seit Beginn des 21. Jahrhunderts sind in der Schweiz rund 10‘000 Bauernhöfe verschwunden. Zwischen 2000 und 2009 ging die Zahl der Höfe von 70‘500 auf 60‘000 zurück. Dies macht ein Minus von fast 2% pro Jahr.

Die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschafts geht ebenfalls um 2,2% pro Jahr zurück.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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