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Vitol: Der verschwiegene Handelsriese, der aus Angestellten Reiche macht

Vitol Schweiz
Vitol-Sitz in Genf. Keystone

Das Rohstoffunternehmen Vitol gehört zu den profitabelsten Unternehmen der Welt. In den letzten drei Jahren schüttete die Gruppe mit Sitz in Genf 20 Milliarden Dollar ans Kader aus.

In einem unscheinbaren Bürogebäude zwischen dem Buckingham Palace und dem belebten Busbahnhof Victoria in London befindet sich auf zwei Etagen eines der profitabelsten, aber am wenigsten bekannten Unternehmen der Welt.

Der Rohstoffhändler Vitol hat in den letzten drei Jahren einen durchschnittlichen Jahresgewinn von mehr als 12 Milliarden US-Dollar erzielt. Das entspricht etwa 6 Millionen US-Dollar pro Mitarbeitenden. Über sein Aktienprogramm hat Vitol fast 20 Milliarden US-Dollar an seine rund 600 leitenden Angestellten ausgeschüttet.

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FT

Die Rekordauszahlungen an die Mitarbeiter-Aktionär:innen folgen auf eine Phase extrem hoher Renditen. Vitol profitierte mehr als seine Konkurrenten von den Turbulenzen auf den Energiemärkten, die mit der Corona-Pandemie im Jahr 2020 begannen und sich mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 fortsetzten.

Vitol: Gigant des Energiehandels

Die privat geführte Gruppe veröffentlicht ihre Ergebnisse nicht, aber die von der Holdinggesellschaft von Vitol in Luxemburg eingereichten Abschlüsse zeigen, dass ihre Gewinne von 2,3 Milliarden US-Dollar im Jahr 2019 auf einen Rekordwert von 15,1 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022, 13,2 Milliarden US-Dollar im Jahr 2023 und 8,7 Milliarden US-Dollar im letzten Jahr gestiegen sind.

Vitol wurde vor fast 60 Jahren in der niederländischen Hafenstadt Rotterdam gegründet und ist ein Gigant in der Energiehandelsbranche.

Im vergangenen Jahr handelte das Unternehmen täglich mit mehr Öl, als Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Grossbritannien zusammen verbrauchten.

Reich und diskret

Dennoch kennen ausserhalb der Branche nur wenige Menschen seinen Namen. «Vitol unterscheidet sich von anderen Handelshäusern», sagt Jean-François Lambert, ein ehemaliger Rohstoffbanker, der intensiv mit dem Unternehmen zusammengearbeitet hat. «Es ist älter und finanziell viel stärker, aber so diskret, dass niemand etwas über das Unternehmen weiss.»

Einige Wettbewerber sehen Vitol als den Goldstandard in einer Branche, die sich seit jeher durch Diskretion und Gewinnstreben auszeichnet. Andere betrachten Vitol als skrupellosen Akteur, der bereit ist, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um Marktanteile zu gewinnen.

«Überraschende Bescheidenheit»

Aktuelle und ehemalige Mitarbeitende beschreiben jedoch eine kollegiale Unternehmenskultur, in der es trotz der hohen Summen, um die es geht, selten zu Konflikten zwischen leitenden Händlerinnen und Händlern kommt.

«Es herrschte überraschenderweise eine gewisse Bescheidenheit», erinnert sich ein ehemaliger Mitarbeiter, der mehrere Jahre im Unternehmen tätig war. «Niemand war protzig, niemand sprach darüber, wie viel Geld er verdiente.»

Der Schlüssel zu dieser Kultur ist laut aktuellen und ehemaligen Mitarbeitenden eine Partnerschaftsstruktur, in der kein:e einzelne:r Mitarbeiter:in mehr als fünf Prozent der Anteile hält.

Vitol ist anders als Mercuria und Gunvor

Dieses Modell wurde von den Unternehmensgründern Henk Viëtor und Jacques Detiger ins Leben gerufen. Sie handelten mit Heizöl-Binnenschiffen auf dem Rhein.

Seitdem ist das Unternehmen stetig gewachsen – «von zwei auf fünf, auf acht und auf fast 600», wie Geschäftsführer Russell Hardy in einem Interview mit der Financial Times in der Zentrale von Vitol sagt.

Konkurrenten wie Mercuria und Gunvor, die beide Anfang der 2000er Jahre gegründet wurden, werden hingegen nach wie vor von ihren Gründern geführt, die grosse Mehrheitsanteile kontrollieren.

Fokus auf den Handel

Hardy kam 1993 von BP zu Vitol und übernahm vor sieben Jahren die Geschäftsführung von Ian Taylor. Dieser war ein draufgängerischer Geschäftsmann und Establishment-Vertreter mit engen Verbindungen zur britischen Konservativen Partei. Angeblich kannte er jeden Mitarbeitenden mit Namen. Taylor starb 2020 nach langer Krankheit.

Hardy sieht sich selbst als eher mathematisch veranlagt mit einem Blick fürs Detail und einem grösseren Fokus auf den Handel und die Geschäftstätigkeit von Vitol. Er sagt, dass erfolgreiche Handelshäuser letztlich beide Fähigkeiten benötigen.

Er leitet Vitol mit einem achtköpfigen Vorstand, dem unter anderem der langjährige Finanzvorstand Jeff Dellapina, der Leiter des Ölgeschäfts Mark Couling, der Leiter des LNG-Geschäfts Pablo Galante Escobar, der Leiter des US-Gas- und Stromgeschäfts Dylan Seff, der Leiter für Amerika Ben Marshall und der Leiter für Asien Kieran Gallagher angehören.

1800 Mitarbeitende

Führungskräfte, die von börsennotierten Ölkonzernen wie Shell mit weltweit fast 100’000 Mitarbeitenden zu Vitol kamen, sagen, dass sie zunächst von der schlanken Betriebsstruktur des Unternehmens überrascht waren.

Die Hauptgesellschaft von Vitol, die hauptsächlich aus dem Handelsgeschäft besteht, beschäftigt etwa 1800 Mitarbeitende. Hardy schätzt jedoch, dass die Gesamtbelegschaft bis zu 20’000 Mitarbeitende umfasst, wenn man alle Beschäftigten der Tochtergesellschaften und Joint Ventures mit einbezieht.

Die schlanke Struktur hat vielen Mitarbeitenden zu grossem Reichtum verholfen. Allein im letzten Jahr schüttete das Unternehmen 10,6 Milliarden Dollar an seine Mitarbeiter-Eigentümer:innen in Form von Aktienrückkäufen aus.

Vergütungen sind frei wählbar

Das entspricht einem Durchschnitt von mehr als 17,5 Millionen Dollar pro Partner, wobei viele Führungskräfte wahrscheinlich noch viel mehr erhalten haben.

Trafigura, der engste Konkurrent von Vitol, hat 13’000 Mitarbeitende und mehr als 1400 Aktionär:innen. Diese teilten sich im letzten Jahr 2 Milliarden Dollar und im Jahr zuvor 5,9 Milliarden Dollar durch ihr Aktienprogramm.

Die Höhe der Auszahlungen an einzelne Partner bei Vitol ist frei wählbar. «Wenn man nicht die richtige Balance findet, kann man keine Leute anziehen”, sagte Hardy. «Und wenn man Anreize schafft, dass Leute das Unternehmen verlassen oder in den Ruhestand gehen, ist das auch kein gutes Management.»

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Allerdings seien die Händle:innen von Vitol, bis auf «eine Handvoll Fälle», eher durch beruflichen Erfolg als durch Geld motiviert, fügt er hinzu.

Die Bilanzen von Vitol enthalten keine Aufschlüsselung der Gewinne nach Geschäftsbereichen, aber die Umsatzzahlen zeigen das stetige Wachstum des Erdgas- und Stromhandels neben dem traditionellen Ölgeschäft.

Im vergangenen Jahr handelte das Unternehmen mit Öl im Wert von 228 Milliarden Dollar.

Vitol ist wenig abhängig von Krediten

Eine Besonderheit des Geschäftsmodells von Vitol ist laut Banker, dass das Unternehmen statt der Finanzierung einzelner Geschäfte durch traditionelle Rohstoffhandelsfinanzierungen seit langem bevorzugt zentral Schulden aufnimmt und diesen einzigen Liquiditätspool dann zur Finanzierung seiner Handelsaktivitäten nutzt.

Dadurch ist Vitol weit weniger von seinen Kreditgeber:innen abhängig als andere Händler. Das ist auch ein Grund dafür, dass das Unternehmen weniger Informationen über sein Geschäft an die Öffentlichkeit weitergeben muss.

Der jüngste Jahresabschluss wies ein Eigenkapital von insgesamt 30,7 Mrd. USD und Schulden in Höhe von 3,6 Mrd. USD aus. Zum Vergleich: Trafigura verfügte über ein Eigenkapital von insgesamt 16,3 Mrd. USD und Schulden in Höhe von 31 Mrd. USD.

Die höheren Kreditaufnahmen sind dabei unter anderem auf das grössere Metallgeschäft von Trafigura zurückzuführen, das mehr Betriebskapital erfordert.

Immer genügend Bargeld

Lambert zufolge bedeutete die Finanzkraft von Vitol, dass das Unternehmen zu Beginn der Energiekrise im Jahr 2022, als viele Handelshäuser aufgrund der Volatilität mit enormen Margin Calls konfrontiert waren, über die nötigen Barmittel verfügte, um von den Verwerfungen auf dem Markt zu profitieren.

«Das Geheimnis im Handel ist Ihr Barmittelbestand”, sagt Hardy. «Man kann jede Situation ausnutzen, wenn man über die richtige Menge an Bargeld verfügt.» Aus den Abschlüssen von Vitol geht hervor, dass das Unternehmen Ende 2021 über 9,3 Milliarden US-Dollar an Bargeld und kurzfristigen Einlagen verfügte.

«Sie sind eine Klasse für sich, und wenn die Marktbedingungen stimmen, dann sind es diese Klassen, die Geld verdienen», sagt ein hochrangiger Rohstoffbanker, der Vitol gut kennt.

Vitol kauft weltweit zu

Ein Teil der jüngsten Gewinne wurde zur Belohnung der Mitarbeitenden und zur Stärkung der Bilanz verwendet – das Eigenkapital hat sich seit 2021 mehr als verdoppelt –, der Rest wurde wieder in Vermögenswerte investiert.

In den letzten drei Jahren hat Vitol die grösste Raffinerie im Mittelmeerraum, das Tankstellennetz von BP in der Türkei sowie das südafrikanische Downstream-Ölunternehmen Engen übernommen. Zudem hat das Unternehmen einen Vertrag über 1,65 Milliarden Dollar für einen Teil eines Ölprojekts in der Elfenbeinküste und eine LNG-Erschliessung in der Republik Kongo abgeschlossen.

Ist auch BP im Visier von Vitol?

Solche Geschäfte haben einige Banker zu der Spekulation veranlasst, dass das Unternehmen ein Angebot für Teile von Hardys ehemaligem Arbeitgeber BP, der sich in Schwierigkeiten befindet, in Betracht ziehen könnte.

Trotz des jüngsten Wachstums des Händlers wäre eine Akquisition von mehr als 5 Milliarden US-Dollar jedoch «extrem weit hergeholt», sagte Hardy, «sowohl in Bezug auf das finanzielle Engagement als auch in Bezug auf die Ressourcen, die innerhalb des Unternehmens benötigt werden, um dieses neue Geschäft mit einem Volumen von 5 bis 10 Milliarden Dollar zu verwalten».

Mindestens 70 bis 80% der «Anstrengungen und des Kapitals” von Vitol konzentrieren sich weiterhin auf die Handelsaktivitäten und Hardy geht davon aus, dass dies auch so bleiben wird. «Wir wollen agil bleiben”, sagte er.

Dies sei unter anderem dadurch erreicht worden, dass die Tochtergesellschaften und Joint Ventures von Vitol wie Vivo Energy als «weitgehend unabhängige Unternehmen» mit eigenen Geschäftsführer:innen, Marken und Kulturen geführt werden.

Bestechungs-Affäre in Südamerika

Es verlief jedoch nicht immer alles reibungslos. Im Februar letzten Jahres wurde der ehemalige Vitol-Händler Javier Aguilar in den USA wegen Korruption verurteilt.

Er hatte zwischen 2015 und 2020 Beamten in Ecuador und Mexiko Bestechungsgelder in Höhe von mehr als 1 Million US-Dollar gezahlt.

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Vitol erzielt 2024 weniger Umsatz

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Der Rohstoffhändler Vitol hat im Geschäftsjahr 2024 weniger Umsatz erzielt. Wegen der gesunkenen Energiekosten und der geringeren Preisschwankungen gingen die Erträge auf 331 Milliarden US-Dollar von 403 Milliarden im Vorjahr zurück.

Mehr Vitol erzielt 2024 weniger Umsatz

«In Javiers Fall sind nicht autorisierte Zahlungen eindeutig der entscheidende Punkt», sagt Hardy und fügt hinzu, dass das Unternehmen seit 2020 mehrere Massnahmen ergriffen habe, um die Zahlungssysteme und Compliance-Verfahren zu verschärfen.

In den letzten 12 Monaten sind mehrere langjährige Mitglieder des Vitol-Vorstands in den Ruhestand getreten, darunter der ehemalige Chief Investment Officer Gérard Delsad und Chris Bake, der die Geschäfte angerissen hat. Der Übergang zu einem neu formierten Führungsteam verlief laut Insidern jedoch reibungslos.

Leicht geringere Gewinne

Wenn Vitol derzeit vor einer Herausforderung steht, dann allenfalls darin, wie das Unternehmen mit etwas geringeren Gewinnen zurechtkommen soll. Hardy rechnet damit, dass sich die Gewinne irgendwo zwischen den früheren rund zwei Milliarden Dollar pro Jahr und den seit 2020 erzielten durchschnittlichen neun Milliarden Dollar einpendeln werden.

«Die Leute gewöhnen sich gerade daran, dass wir etwas langsamer fliegen als früher», sagt Hardy. «Man muss etwas härter arbeiten, um Chancen zu nutzen.»

Copyright The Financial Times Limited 2025

Übersetzt mit Hilfe von deepl: Balz Rigendinger

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