
Silvan Betschart, der Mann, der das Wetter riecht

In der Schweiz gibt es Menschen, die sich nicht auf Satellitenbilder verlassen, um das Wetter vorherzusagen. Es sind die so genannten Wetterschmöcker, die Wetterpropheten aus dem Muotathal, die ihre Prognosen auf Naturbeobachtungen stützen. Einer von ihnen ist der 35-jährige Silvan Betschart, der als Koch und Jäger arbeitet.
Auf der einen Seite liegt der Vierwaldstättersee, im Hintergrund erhebt sich der Pilatus mit seiner charakteristischen Form. In der Ferne, fast unsichtbar, liegt der Ägerisee.
Wir befinden uns auf einer Höhe von rund 1300 Metern, und die Schönheit der Landschaft raubt uns fast den Atem. Um uns herum werden die Bergkronen teilweise von langsam durchziehenden weissen Wolken verdeckt.
«Es herrscht Aufruhr am Himmel. Vielleicht werden wir morgen von einem abendlichen Gewitter überrascht», prophezeit Silvan Betschart, während er den Horizont betrachtet.
Wir befinden uns im Kanton Schwyz, der Heimat der Wetterpropheten – Ikonen der bäuerlichen Tradition in der Schweiz und Hüter des seit Jahrhunderten mündlich überlieferten Wissens.
Silvan Betschart wurde vor Kurzem in die Reihen der Muotathaler WetterschmöckerExterner Link aufgenommen. Er ist der jüngste der sechs Propheten. Mit ihm besuchen wir einen der Orte seiner Kindheit, an denen er die Geheimnisse des «Riechens» des Wetters erlernte.
Die Zeichen der Natur lesen
«Die Bienen sind heute fleissig, obwohl die Temperaturen im Vergleich zu den letzten Tagen gesunken sind», sagt Betschart, während wir einen Waldweg entlanggehen. Ein paar Schritte vor uns schnüffelt Calina, die Jagdhündin, den Boden ab – innerhalb des Bereichs, den ihr die Leine zugesteht.
Betschart hingegen schnüffelt in der Luft, auf der Suche nach jenen Signalen, die nur jemand wahrnehmen kann, der die Natur genau kennt.
«In den Voralpen und Alpen ist das Wetter immer unsicherer als im Mittelland», erklärt er. «Die grossen Wolken vor uns sagen uns, dass es heute Abend in den Urner, Glarner oder Bündner Alpen regnen könnte.»
Mit Hut auf dem Kopf, Fernglas um den Hals und Wanderschuhen an den Füssen geht es mit Silvan Betschart in Richtung Süden zu den Grossen und Kleinen Mythen.
Dieses Massiv ist bei Wandernden sehr beliebt und gleichzeitig ein Naturschutzgebiet, in dem Wildtiere auch während der Jagdsaison ungestört grasen können.
Auf den nach Norden ausgerichteten Wiesen pulsiert das Leben. Die Grillen zirpen, die Stimmung ist typisch für die warmen Frühlingstage. Es ist früher Nachmittag, die Wildtiere haben sich auf der Suche nach Abkühlung in den dichten Wald zurückgezogen.
«Ich komme gerne hierher, um an solchen Orten spazieren zu gehen», fährt Betschart fort. «In unserer schnelllebigen Zeit holt mich die Natur auf den Boden der Tatsachen zurück.»
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Wir verlassen den Nadelwald und betreten eine Alp, auf der einige sattgefressene Rinder in der Nähe eines Stalls friedlich grasen.
Betschart bleibt stehen, beobachtet die Landschaft und nimmt dann sein Fernglas zur Hand. Gerade hat ein Turmfalke den Horizont überflogen.
«Wenn er den Flug des Heiligen Geists macht, um in der Luft zu schweben, warnt er uns, dass es bald regnen wird», erklärt er.
«Wir müssen lernen, die Hinweise der Natur zu beobachten und zu interpretieren. Das Wetter kündigt sich immer an, in der einen oder anderen Form. Was bedeutet es beispielsweise, wenn der Wind die Blätter der Pflanzen umdreht und ihre Rückseiten zeigt oder die Rehe auf die Weide kommen?»
Er ist der Jüngste der Sechs
Die Signale der Natur zu deuten, ist die Kunst der Wetterpropheten. Es gibt sechs von ihnen, und jeder der Muotathaler Wetterschmöcker verwendet unterschiedliche Methoden zur Wettervorhersage.
Einige beobachten die bärtigen Moose und Flechten, die an den Tannenbäumen hängen, andere nehmen die Aktivität der Bienen unter die Lupe oder lesen die Spuren, die Mäuse im Boden hinterlassen.
Betschart hingegen verlässt sich auf die Spuren von Wildtieren wie Hirschen, Rehen oder Gämsen. Im Frühjahr und im Herbst sogar auf Pilze.
«Ihr Vorhandensein, ob früh oder spät, ihr Standort und ihre Menge liefern uns viele Informationen, die es zu entschlüsseln gilt», verrät er. «Und dann sind es auch Produkte der Natur, die in der Küche sehr gut sind und geschätzt werden.»
Silvan Betschart gehört seit letztem Sommer zu der kleinen Gruppe der Wetterpropheten. Mit 35 Jahren ist er der Jüngste von sechs Wetterschmöckern. Von Beruf ist er Metzger und Koch, doch seine grosse Leidenschaft ist die Jagd.
Auf dem HerrenbodenExterner Link, auf rund 1200 Metern über dem Meeresspiegel und etwa 20 Autominuten vom Ort Sattel entfernt, führt er ein Familienrestaurant bereits in der dritten Generation.
Dort erzählt er bei Spätzli und Wildbret seine Geschichte. «Ich bin bei den Wetterschmöckern aufgewachsen», sagt er.

«Schon als Kind verfolgte ich ihre Erzählungen, Geschichten und Streitereien über das Wetter, wenn sie sich um den runden Tisch in unserem Restaurant versammelten”, erinnert sich Betschart.
Sein Mentor war sein Jagdfreund Karl Reichmuth aus Haggen ob Schwyz, der wie jeder Wetterschmöcker einen Spitznamen hatte: Er nannte sich «Steinbockjäger”Externer Link.
«Er begleitete uns auf Jagdausflügen und ich lernte von ihm, das Verhalten der Wildtiere zu lesen, zum Beispiel das der Hirsche während der Brunftzeit», sagt Betschart, der «Herrenbödler».
Zwischen Ernst und Scherz
Im letzten Sommer übernahm Silvan Betschart den Staffelstab von Martin Horat, der im Januar 2024 verstorben ist. Horat war in der ganzen Schweiz eine legendäre Figur. Er setzte sich auf Ameisenhügel, um das Wetter vorhersagen zu können.
Seinem Charisma und seiner Bekanntheit ist es auch zu verdanken, dass der Verein der Wetterpropheten in den letzten zwanzig Jahren einen starken Mitgliederzuwachs verzeichnen konnte. Heute zählt der Meteorologen-Verein Innerschwyz rund 4500 Mitglieder aus der ganzen Schweiz.
Der Verein wurde 1947 in Muotathal mit dem Ziel gegründet, das alte Wissen zu bewahren, das mit dem Aufkommen des Radios und der wissenschaftlichen Wettervorhersage zu verschwinden drohte.
«Diese Fähigkeit, das Wetter vorherzusagen, hat mich schon immer fasziniert. Auch für unser Restaurant war es wichtig zu wissen, wie die Wintersaison verlaufen würde», sagt Betschart, während er an seinem Kaffee nippt und dabei auf die beiden nahen Skilifte blickt, die seit zwei Jahren stillstehen.
«Während andere Fussballspiele verfolgen, gehe ich mit dem Hund raus und beobachte alles um mich herum.» Vor dem Einschlafen notiert er jedes Detail in einem Kalender auf dem Nachttisch in seinem Schlafzimmer.

Der «Herrenbödler», gibt zu, dass es weder kurz- noch langfristig einfach ist, «es richtig zu machen». Schliesslich weist er darauf hin, dass das Wetterschmöcken auch ein Spiel ist, eine Übung zwischen Ernst und Scherz, die Wissen und Humor verbindet.
Für diesen Sommer ist seine Prognose optimistisch: gutes Wetter, nicht zu trocken und mit ausreichend Niederschlag. Und der Herbst? «Ausgeglichen und reich an Pilzen», antwortet er mit einem Lächeln.
Die Tradition der Wetterschmöcker reicht mindestens bis ins Jahr 1749 zurück. Damals begannen die örtlichen Bauern, das Wetter durch Naturbeobachtung vorherzusagen.
Aus Sorge, dieses Wissen könnte mit dem Aufkommen des Radios verloren gehen, wurde 1947 der Meteorologen-Verein Innerschwyz gegründet, um diese Praxis zu bewahren und zu fördern.
In den Anfangsjahren hatte der Verein weniger als hundert Mitglieder, heute sind es über 4500. Der Mitgliederbeitrag beträgt 15 Franken.
Die Wetterschmöcker treffen sich zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst, um ihre Prognosen für die kommende Saison einem grossen Publikum aus der ganzen Schweiz mitzuteilen, womit sie auch die Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen.
Derzeit besteht die Gruppe der aktiven Wetterschmöcker aus sechs Mitgliedern: Silvan Betschart (Herrenbödler) aus Sattel, Karl Hediger (Naturmensch) aus Küssnacht, Martin Gisler (Tannäbart) aus Riemenstalden, Martin Holdener (Muser) aus Haggen, Karl Laimbacher (Tobel-Kari) aus Schwyz und Roman Ulrich (Jöri) aus Bisisthal.
Bei jeder Versammlung wird eine Rangliste der vergangenen Vorhersagen erstellt. Eine Jury zeichnet den treffsichersten Wetterpropheten mit dem Titel «Wetterkönig» aus.
Übertragung aus dem Italienischen mithilfe von Deepl: Christian Raaflaub

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