Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Darum wählen Auslandschweizer:innen anders

Projektion an der Wand von Wahlresultaten
© Keystone / Michael Buholzer

220'000 Schweizerinnen und Schweizer konnten bei Wahlen 2023 mitbestimmen. Wie ticken sie? Und wie mächtig sind sie wirklich?

Der Trend ist: Immer mehr Ausgewanderte kehren irgendwann wieder zurück. Es ist also berechtigt, wenn sie mitgestalten an ihrer Heimat. Dabei gilt: Man kann nur mitgestalten, wenn man mitspricht. Doch die durchschnittliche Wahlbeteiligung ist vergleichsweise tief, sie liegt bei jeweils rund 25%.

Das Elektorat entspricht etwa der Grösse des Kantons Wallis, und gewiss sind diese Wähler:innen so verschieden wie die Gesamtheit aller Walliser:innen. Und politisch so bunt wie das Stimmvolk in der Schweiz.

Ticken Ausgewanderte anders?

Es gibt dennoch Unterschiede zum Stimmvolk im Inland, und die ergeben sich aus der Lebensrealität der Ausgewanderten.

Wo leben sie? Zwei Drittel leben in Europa, die Hälfte in den Nachbarländern der Schweiz. Daraus ergibt sich ein grosses Interesse an einer gut geregelten Beziehung zur EU. Sie sind zudem weltoffener, in diesem Sinne auch urbaner. Das Fremde macht ihnen keine Angst, im Gegenteil begrüssen sie es, sie leben ja in der Fremde – das hat Auswirkungen auf ihre Haltung gegenüber der Migration.

Weil sie in der Welt draussen leben, sind sie auch sensibler für globale Trends und bilden diese schneller ab. Das hat sich in den Wahlen 2019 gezeigt mit einem massiven Zuspruch für die Grünen. 2023, wo global eher Sicherheit, Verteidigung und Machtdenken dominieren, könnte dies auch den bürgerlichen Parteien Rückenwind gegeben haben.

Was kriegen sie mit? Eher nicht jede Zuckung auf Social Media und nicht jede Schlagzeile der grossen Zeitungen. Krankenkassenrechnungen oder Steuerrechnungen erhalten sie in aller Regel auch nicht. Auch das formt die Wahrnehmung. Es macht Grundsatzfragen wichtiger als das, was der der Schweizer Bevölkerung im Alltag begegnet.

Wie denken sie? Erstens sind sie laut einer Studie überdurchschnittlich gut gebildet. Zweitens sehen sie die Schweiz von aussen, die Stärken und Schwächen ihrer Heimat. Sie erhalten auch Kommentare zur Schweiz, kritische und bewundernde. Das formt ihr Bewusstsein.

Sie haben deshalb ein Interesse an einer offenen Aussenpolitik und an einer wahrnehmbaren Rolle der Schweiz in der Welt. Werte wie eine intakte Umwelt, eine gut funktionierende Demokratie, eine solidarische Gesellschaft: Das ist ihnen laut verschiedenen Abstimmungsanalysen wichtig, und da sehen sie die Schweiz offenbar in der Pflicht.

Gibt es Unterschiede im Abstimmungsverhalten?

Das Profil der durchschnittlichen Auslandschweizer:in neigt laut Politolog:innen und gemäss Analysen deutlich nach links und nach grün. Wenn es aber um Abstimmungen geht, zeigt sich ein differenzierteres Bild. Da ist man auffällig regierungstreu und folgt keineswegs nur blind links-grün.

Auch die Beteiligung variiert: «Man nimmt eher an den Abstimmungen teil, die einem bewegen», sagt Politologe Michael Herrman. «Nicht alles hat dieselbe Dringlichkeit, denn nicht alles betrifft einem unmittelbar. Allzu technische oder allzu interne Geschäfte ziehen weniger.»

Es gibt Vorlagen, wo die starke Werteorientierung dieses Elektorats sehr deutlich zum Vorschein kommt. Die Konzernverantwortungsinitiative wäre von der Fünften Schweiz zum Beispiel mit 60% angenommen worden, ein Verbot von Massentierhaltung hätten die Auslandschweizer:innen – anders als das Inland – ebenfalls angenommen, ebenso die beiden Pestizidverbots-Initiativen 2021.

Auslandschweizer:innen stimmen also gerade in ökologischen Fragen progressiver, während im Inland die direkten Auswirkungen stärker ins Gewicht fallen, etwa auf die Landwirtschaft oder via Konsumentenpreise aufs eigene Portemonnaie.

Dabei gilt: Die Auslandschweizer:innen kippen kaum je Wahlen oder Abstimmungen. Den Einflussfaktor der Diaspora auf die Abstimmungen schätzen Experten auf rund 0,2 Prozent. Eine Abstimmung müsste also so knapp ausgehen, damit dieses Elektorat etwas in seine Richtung reissen könnte.   

Warum ist die Diaspora für Parteien so interessant?

Aber in Situationen, in denen jede Stimme zählt, sind sie für die Parteien interessant. Das ergibt sich einerseits aus ihrem Profil. Weil sie stärker werteorientiert abstimmen, sind sie vielleicht auch treuer: Einmal entschieden, haben die Parteien gute Chancen, die Wähler:innen zu behalten.

Tatsache ist aber auch: Das Elektorat wächst rasant, es hat sich in den letzten 30 Jahren mehr als verdreifacht. Es hat jetzt die Grösse, um über 6 bis 8 Sitze im Nationalrat zu bestimmen – theoretisch, denn in der Realität fragmentiert sich diese Kraft auf die 26 Kantone.

Die Parteien buhlen darum vermehrt um die Stimmen der Auslandschweizer:innen. SP, SVP, FDP und Mitte sind schon länger aktiv.

Die GLP hat jetzt auf die Wahl 2023 hin als letzte der grossen Parteien eine Auslandschweizer-Sektion gegründet. Das passt, denn das politische Profil der Auslandschweizer:innen deckt sich beinahe mit dem Profil der Grünliberalen: progressiv im Umweltschutz, für eine liberale Gesellschaft, und eine offene Aussenpolitik.

Was auch auffällt: Dieses Jahr wurden die Auslandschweizer:innen mit einer stattlichen Anzahl Vorstössen im Parlament gezielt bedient – etwa zu Krankenkassen, E-Voting oder zu Europa. So haben die Parteien in einem eigentlichen Wahl-Endspurt nochmals auf sich aufmerksam gemacht.

Was hat die Schweiz von den Stimmen der Diaspora?

In der Community der Auslandschweizer:innen sieht man sich selbst ein bisschen wie eine entfernter Verwandte, die dann und wann aus der Distanz gute Ratschläge geben kann.

An der Urne zeigt sich das Elektorat auf eine gewisse Weise auch “cooler”, den nervösen Zuckungen der Innenpolitik und den Abstimmungskampagnen nicht so ausgesetzt. Es denkt auch nicht in erster Linie ans eigene Portemonnaie, weil es ja kaum direkt die  Kostenfolgen tragen muss. Man bringt also eine etwas abstrahiertere Sicht in den Schweizer Politbetrieb.

Dies kann eine Bereicherung für die Schweizer Politik sein, insbesondere bei Fragen der Aussenpolitik und bei Grundsatzfragen. Denn Auslandschweizer:innen haben feine Antennen, sie sehen sehr genau und schnell, wie die Schweiz in der Welt positioniert ist.

In diesem Video erklärt Auslandschweizerin Alexia Berni wie es ist, am selben Tag in Argentinien und in der Schweiz zu wählen:

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft