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Die Migros und die Alkoholfrage

Alkoholverkauf in einem Migrolino
Die Migros hat in ihren Supermärkten nie Alkohol verkauft. In den Migrolino-Shops hingegen, die der Migros gehören und oft an Bahnhöfen und Tankstellen zu finden sind, wird Alkohol verkauft. © Keystone / Christian Beutler

Die jüngste Ankündigung der Migros erhitzt die Gemüter: Der Detailhandels-Riese erwägt nach fast einem Jahrhundert Abstinenz, in seinen Supermärkten Alkohol zu verkaufen. Wir werfen einen Blick auf eine Geschichte über Abstinenz-Prinzipien, Profite – und Vorwürfe der Heuchelei.

Wie viele Reisende oder neu zugezogene Ausländerinnen und Ausländer sind wohl auf der Suche nach einem Bier oder einer Flasche Wein schon durch einen der 630 Migros-Supermärkte in der Schweiz geirrt, bevor sie von Angestellten aufgeklärt wurden?

Wer aus Europa stammt, ist vielleicht etwas erstaunt zu erfahren, dass einer der erfolgreichsten und beliebtesten Detailhändler des Landes weder Alkohol noch Tabak im Sortiment führt.

Doch jetzt hat die Migros Anfang November einen ersten Schritt in Richtung Alkohol (aber nicht Tabak) getan: 85 der 111 Delegierten des Migros-Genossenschafts-Bundes (MGB) stimmten für eine Änderung der StatutenExterner Link, um das Verbot des Alkoholverkaufs aufzuheben.

Damit wurde der “demokratische Weg” zum Entscheid über die Frage des Alkoholverkaufs freigemacht, wie die Migros mitteilte. Die zehn regionalen Genossenschafts-Ausschüsse können nun nächsten Monat über die Statutenänderung abstimmen.

Wenn die regionalen Gremien zustimmen, wird der Antrag den 2,27 Millionen Migros-Mitgliedern – das entspricht etwa einem Viertel der Bevölkerung des Landes! – am 4. Juni nächsten Jahres zur Urabstimmung vorgelegt. Jene Regionen, in denen zwei Drittel der Mitglieder zustimmen, könnten dann ihre Regale mit Alkohol bestücken.

Die Migros-Gruppe ist mit einem Umsatz von 29,9 Milliarden Franken (2020) das grösste Detailhandelsunternehmen der Schweiz und mit rund 99’000 Mitarbeitenden (59% Frauen) die grösste privatwirtschaftliche Arbeitgeberin der Schweiz. Auf Direktionsstufe lag der Frauenanteil bei 16,5% und auf Kaderstufe bei 29,7%.

Die Migros ist im Besitz ihrer 2,27 Millionen Genossenschaftsmitglieder und ist in zehn regionalen GenossenschaftenExterner Link organisiert. Diese Genossenschaften betreiben das Kerngeschäft der Migros-Gruppe: den Detailhandel.

Daneben besitzt die Migros zahlreiche Industriebetriebe, verschiedene Handels-, Reise- und Logistikunternehmen sowie die Migros Bank.

Die zehn regionalen Genossenschaften sind das eigentliche Fundament der Migros. Sie werden selbständig geführt, erstellen eigene Jahresrechnungen und verfügen über eigene Verkaufsflächen und eigenes Personal im Kerngeschäft: dem Detailhandel unter dem Namen Migros.

Ihre wichtigsten Funktionen sind der Verkauf von Waren und der Einkauf der regionalen Sortimente, während der Migros-Genossenschafts-Bund (MGB) zentrale Dienstleistungen wie Einkauf, Logistik und IT sicherstellt.

Dem MGB gehören fünf marktführende Unternehmen. Dazu zählen der Discounter Denner, der Convenience-Spezialist Migrolino sowie der Tankstellenbetreiber und Mineralölanbieter Migrol. Mit Digitec Galaxus besitzt die Migros zudem den grössten E-Commerce-Anbieter der Schweiz und mit Ex Libris den führenden Online-Buchhändler des Landes.

Das seit 1957 in den Migros-Statuten verankerte Migros-Kulturprozent gab im Jahr 2020 rund 142 Millionen Franken für Kultur, Gesellschaft, Bildung, Freizeit und Wirtschaft aus.

(Quelle: Migros, Zahlen & Fakten 2020)

Sollte es im kommenden Juni tatsächlich zu einer Urabstimmung kommen, dürfte die Debatte in den nächsten sechs Monaten sehr lebhaft werden.

Schon im Vorfeld der Delegiertenversammlung hatte das Blaue Kreuz, eine NGO, die sich für Prävention und Behandlung von Alkohol- und Drogenabhängigkeit einsetzt, vor einem “Verrat” an der DNA der Migros gewarnt. Das Unternehmen riskiere, seinen guten Ruf als sozial verantwortlicher Grossverteiler zu verlieren, sagte das Blaue Kreuz.

Einzigartiges Verkaufsargument

Dieser Ruf hat sich über fast ein Jahrhundert hin entwickelt. 1925 schickte der visionäre Schweizer Unternehmer Gottlieb Duttweiler (1888-1962) fünf umgebaute Lieferwagen auf die Strassen von Zürich, um Grundnahrungsmittel zu verkaufen. Im Jahr darauf eröffnete die Migros ihre erste Filiale in Zürich.

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1928 kaufte Duttweiler eine angeschlagene Obstsaft-Fabrik am Zürichsee als neues Produktionszentrum und führte das Engagement des ehemaligen Besitzers zur Förderung der Volksgesundheit fort.

“Hätten wir Wein eingeführt, als die Migros aufkam, so wäre der Preis etwa 58 Rappen der Liter gewesen. Das war eine effektive Gefahr!” Dann hätten viele angefangen zu trinken oder mehr getrunken, sagte er in einem Interview in den 1950er-Jahren, aus dem die NZZ am Sonntag zitierteExterner Link.

Es ging bei dem Entscheid allerdings nicht nur um Ideologie, denn Duttweiler trank und rauchte selber gerne. Der Kauf der Fabrik hatte ihn verschuldet, und er brauchte Geld. Dazu setzte er auch auf billigen Süssmost, was sich auszahlen sollte. Die Öffentlichkeit konnte nicht genug davon bekommen.

Duttweiler verteidigte das Alkoholverkauf-Verbot nicht immerwährend, wie die NZZ am Sonntag berichtete. Als die Alkoholpreise Jahre später höher waren und der Weinüberschuss in der Schweiz zu einem Problem wurde, habe er vorgeschlagen, im Rahmen einer Kampagne zur Förderung des Konsums einheimische Weine im Sortiment zu führen. Dafür sei er vom Genossenschaftsrat “beinahe gesteinigt worden”.

In dem Interview sagte Duttweiler auch, grundsätzlich sei er noch immer gegen den Verkauf von Wein: “Wenn man ein Prinzip 27 Jahre lang hochgehalten hat… so soll man es nicht aus opportunistischen Gründen aufgeben.”

Für den Marketingexperten Thomas Wildberger, der hinter der Kampagne “Die Migros gehört den Leuten” steht, war “der Verzicht auf den Verkauf von Alkohol immer eine Grundsäule des Unternehmens. Er ist eines der wichtigsten Unterscheidungskriterien zu den Konkurrenten”, sagte er gegenüber dem Zürcher Tages-AnzeigerExterner Link.

“Dieses einzigartige Verkaufsargument hat die Migros populär gemacht. Nun zeichnet sich ab, dass man dieses aufgibt. Das ist schade. Denn die Bevölkerung liebt die Migros genau für diese Andersartigkeit.”

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Finanzielle Vorteile

Der Grund, warum die Migros auf den Geschmack von Alkohol kommt, ist laut einem Artikel der Westschweizer Zeitung Le TempsExterner Link “eindeutig wirtschaftlicher Natur”: “Die Migros verzichtet derzeit auf einen bedeutenden Teil des Markts”, schreibt die Zeitung und weist darauf hin, dass Schweizer:innen im Schnitt pro Jahr 52 Liter Bier, 31 Liter Wein und 3,8 Liter Spirituosen konsumierten, Bars und Restaurants eingeschlossen.

“Der Einzelhandel hat mit diesen Getränken im Jahr 2020 rund 2,6 Milliarden Franken eingenommen. Oder anders gesagt: Einer von elf Franken, den Coop, Aldi, Lidl, Manor oder Denner verdienen, stammt aus dem Verkauf von Bier, Wein oder Spirituosen. Das ist halb so viel wie mit Fleisch, aber 1,5 Mal so viel wie mit Früchten”, heisst es in dem Artikel weiter.

Da die Migros in der Schweiz einen Anteil von 35-40% am Lebensmittelmarkt hat, “könnte diese historische Verschiebung ihren Umsatz um mindestens 900 Millionen Franken pro Jahr erhöhen”, rechnet Le Temps vor.

Der ehemalige Finanzchef der Migros, Mario Honorant, ist sogar noch optimistischer und schätzt die Zahl auf 1,5 bis 2 Milliarden Franken.

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“Scheinheilig”

Die Realität ist, dass die Migros seit Jahren Alkohol verkauft, nur nicht in ihren Supermarkt-Filialen. “Dass die Migros bei dem umstrittenen Geschäft mitverdienen will, ist verständlich. Aber warum bekennt sie sich nicht dazu?”, schrieb die Boulevardzeitung Blick letztes JahrExterner Link.

“Stattdessen werden Konstrukte wie ‘VOI-Migros-Partner’ erfunden. Stattdessen entwickelt man Franchise-Konzepte. Nur damit die Migros behaupten kann, sie betreibe keinen einzigen Laden selber. Das ist scheinheilig”, schrieb der Blick weiter.

Tatsache ist: Die Migros-Gruppe bietet derzeit in ihren Tochtergesellschaften Denner und Migrolino, in ihrem Internet-Outlet Leshop.ch, in den Migros-Tankstellen und in den Partner-Shops VOI Alkohol und teilweise auch Tabakwaren an.

Als der Deal der Migros mit dem Discounter Denner im Jahr 2007 bekannt gegeben wurde, lobten Branchenbeobachter ihn als perfekte Ergänzung für beide Parteien, da er die Grösse der Migros mit den Alkohol- und Tabakprodukten von Denner verband.

Zudem ist die Debatte nicht neu, sondern reicht mindestens bis ins Jahr 1997 zurück, als die Migros das Nobelkaufhaus Globus kaufte (das sie letztes Jahr wieder verkaufte).

“Das Tauziehen zwischen einer neuen Generation von Führungskräften und einer Art alter Garde mit Jüngern Gottlieb Duttweilers war in vollem Umfang zu sehen”, heisst es bei Le TempsExterner Link mit Blick auf den damaligen Kauf.

“Damals kritisierte man die Einfuhr von Alkohol und Tabak durch die Hintertür. Man sprach von einem Verstoss gegen die Statuten der Genossenschaft. Es hiess, die historischen Grundsätze der Migros seien ausgehöhlt worden.”

Demokratischer Entscheid

Für viele – vielleicht für die meisten – Menschen ist der Verkauf von Alkohol tatsächlich eine Frage des Prinzips. Für gewisse Leute stellt er aber eine echte Herausforderung dar.

Schweizer Radio SRF hat mit Felix gesprochenExterner Link, einem Alkoholiker, der seit mehreren Jahren trocken ist. Er sagt, dass das Einkaufen für Suchtkranke zu einem “Spiessrutenlauf” werden könne. Für ihn besonders schwierig sei es, in einem Geschäft an Alkohol vorbeizulaufen.

“Es triggert einen einfach. Man denkt vielleicht, dass es wieder einmal eine Idee wäre, was zu kaufen. Oder bei diesem Sonderangebot müsste man eigentlich zuschlagen”, sagt er. “Solche Situationen will man einfach vermeiden.”

Wenn kein Alkohol im Laden stehe, sei die Wahrscheinlichkeit geringer, rückfällig zu werden und Alkohol zu kaufen.

“Es ist ein anderes Einkaufen, vor allem in der Anfangszeit, als ich trocken wurde. Ich musste aufpassen, wo ich durchgehe und wo nicht. Es war ein gezieltes Einkaufen”, sagte er. Er habe Einkaufszettel geschrieben, um bewusst gewisse Abteilungen ausschliessen zu können.

“Duttweiler würde sich im Grabe umdrehen. Oder auch nicht. Er tat selten, was andere von ihm erwarteten”, heisst es in einem Leitartikel im Tages-AnzeigerExterner Link nach dem Entscheid der Delegierten.

Wie auch immer die Debatte um die Migros und das mögliche Aus für das Alkoholverkauf-Verbot letztlich ausgehen mag. Marketingexperte Thomas Wildberger hält es jedenfalls für klug, die 2,27 Millionen Migros-Mitglieder entscheiden zu lassen.

“Als demokratisches Land sind wir solche Abstimmungen gewohnt, und wir akzeptieren das Ergebnis – egal wie es ausfällt. Das wird in dem Fall nicht anders sein.”

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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