Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

“Die Schweizer Uhrenindustrie ist sehr verschwiegen”

Jérôme Biard sitzt an einem grosszügigen Bürotisc, vor sich gespitzte Bleistifte
Jérôme Biard in den Büros seiner Firma Roventa-Henex in Tavannes, Kanton Bern. DR

In der Uhrenindustrie ist es, anders als in anderen Branchen, üblich, die Identität von Zulieferern geheim zu halten. Die Firma Roventa-Henex, die in völliger Anonymität für Marken und Privatpersonen arbeitet, hat diese Diskretion zu ihrem Geschäftsmodell gemacht.

Ausserhalb der Welt der Uhrmacherei kennen nur sehr wenige Menschen Roventa-Henex. Das Unternehmen mit Sitz in Tavannes im Berner Jura ist jedoch ein wichtiger Akteur in der Schweizer Uhrenindustrie. Und die hier hergestellten Uhren sind weltweit bekannt.

Roventa-Henex ist ein sogenanntes “Private Label”-Unternehmen, dessen Geschäftsmodell es ist, Uhren für andere Unternehmen herzustellen, die diese Produkte dann unter ihrem eigenen Namen vermarkten. In diesem Kontext ist es Roventa-Henex strengstens untersagt, die Identität seiner Kunden preiszugeben. 

Roventa-Henex wurde 1959 gegründet und beschäftigt 90 Mitarbeiter:innen am Hauptsitz in Tavannes und 10 weitere in einer Filiale in Hongkong. Wir haben Jérôme Biard, seit April 2019 CEO des Unternehmens, in seinem Büro in Tavannes getroffen.

Nach seinem Bachelorstudium in Management (1983-1986) an der EHL (ehemals École hôtelière de Lausanne) begann Jérôme Biard eine lange Karriere in der Uhrenindustrie. Er war unter anderem bei Vacheron Constantin, Cartier und Girard-Perregaux tätig.

Zudem war der gebürtige Lausanner zwischen Juni 2017 und März 2019 CEO von Corum und Eterna, zwei Uhrenunternehmen, die von der chinesischen Citychamp-Gruppe aufgekauft wurden.

Seit April 2019 ist Jérôme Biard CEO von Roventa-Henex, an dem er bis 2022 30 Prozent der Anteile erworben hat.

SWI: Welche Dienstleistungen bieten Sie Ihren Kunden an?

Jérôme Biard: Alles von der ersten Konzeption über die technische Entwicklung, die Herstellung von Prototypen und die Industrialisierung bis hin zu den abschliessenden Tests. Manchmal kümmern wir uns auch um die Logistik. An Vertrieb und Verkauf sind wir jedoch nie beteiligt.

Die Herstellung der Komponenten delegieren wir stets an ein ausgedehntes Netz von Zulieferern in der Schweiz und in Asien, wobei wir die Qualität der Produktion in jedem Fall genauestens überwachen, insbesondere durch unsere Tochtergesellschaft in Hongkong.

Alle unsere Uhren erfüllen die gesetzlichen Kriterien für das “Swiss Made”-Label. Unsere Jahreskapazität liegt bei über 200’000 Uhren.

An welchen Arten von Uhren arbeiten Sie aktuell?

Die Einzelhandelspreise unserer Uhren liegen zwischen 400 und 50.000 Franken, das Gros der Stückzahlen liegt jedoch im Bereich zwischen 1.000 und 5.000 Franken. Da wir in erster Linie ein Konstruktionsbüro sind und keine eigenen Produktionsanlagen besitzen, ist es uns möglich, in dieser breiten Preisspanne wettbewerbsfähig zu sein.

Ihre Website existiert nur in englischer Sprache. Bedeutet das, dass Sie nur internationale Kunden bedienen?

Es geht eher darum, unsere Kosten zu kontrollieren, da unsere Gewinnspannen nicht so hoch sind wie die der Marken. Dennoch generiert unsere einfache Online-Präsenz täglich etwa fünf Anfragen.

Am Anfang verbrachten wir viel Zeit damit, Konzepte mit dieser potenziellen Kundschaft auszuarbeiten. Später haben wir gelernt, all diese Anfragen frühzeitig auszusortieren und uns auf die vielversprechendsten zu konzentrieren, insbesondere auf solche, die auf langfristigen Projekten basieren.

Heute ziehen wir es sogar vor, selbst attraktive Konzepte für grosse potenzielle Kunden zu entwickeln und diese proaktiv anzubieten.

Diskretion ist einer Ihrer wichtigsten Werte und Sie geben nie die Namen bekannt. Welche Art von Kunden haben Sie?

Wir haben sechs Arten von Kunden, die nach abnehmender Bedeutung geordnet sind: grosse Uhrenmarken, grosse Nicht-Uhrenkonzerne, Uhrenhändler und -einzelhändler, “Träumer”, “einmalige Träumer” und Start-ups.

Die “Träumer” sind wohlhabende Personen, die langfristig eine Uhrenmarke gründen wollen. Punktuelle Träumer” haben keine langfristige Strategie und wollen einen “einmaligen Coup”. Start-ups sind Träumer ohne Vermögen.

Jérôme Biard schaut in seinem Büro aus dem geöffneten Fenster
Jérôme Biard kann auf eine lange Karriere in der Uhrenindustrie zurückblicken. DR

Haben Sie einen Katalog mit Vorlagen?

Absolut nicht. Unsere Projekte beginnen meist mit einem weissen Blatt Papier. Unsere erste Aufgabe besteht oft darin, unseren Kunden zu helfen, ihre Wünsche auszudrücken.

Wie gross ist das Volumen einer typischen Bestellung?

Von einigen hundert bis zu einigen tausend Uhren. Damit ein Kunde für uns rentabel ist, ist es jedoch wichtig, dass sich seine Bestellungen wiederholen. Die Lieferung einer einzigen kleinen Bestellung ist nämlich besonders teuer und aufgrund der Investitionen, die für die Einrichtung einer Produktionslinie erforderlich sind, in der Regel unrentabel.

In vielen Branchen haben Lieferanten und Private-Label-Unternehmen das volle Recht, die Namen ihrer Kunden zu nennen. Warum ist das in der Uhrenindustrie nicht der Fall?

Man muss feststellen, dass die Uhrenindustrie anders und viel verschwiegener ist. Die Rolle von Roventa-Henex besteht darin, das zu verwirklichen, was die Öffentlichkeit von den Uhrenmarken erwartet.

Das ist auch der Grund, warum die Marken die Identität ihrer Zulieferer und “Private Label”-Unternehmen so gut wie nie preisgeben. Selbstverständlich werden wir nicht zu Presse-Präsentationen der Produkte eingeladen. Daher ist es wichtig, dass das Ego unserer Projekt- und Produktmanager nicht überdimensioniert ist.

Einige Unternehmen, die früher im Bereich “Private Label” tätig waren, haben schliesslich ihre eigenen Marken eingeführt. Ein Beispiel dafür ist Maurice Lacroix. Denken Sie darüber nach?

Wir planen keine solche Entwicklung, vor allem, um nicht mit unseren eigenen Kunden zu konkurrieren. Um unsere völlige Freiheit bei der Wahl unserer Lieferanten zu wahren, beabsichtigen wir ausserdem nicht, Hersteller von Uhrenkomponenten zu übernehmen.

Wir konzentrieren uns weiterhin auf unser Kerngeschäft, sind jedoch offen für die Anwendung unseres technischen Know-hows in Nicht-Uhren-Industrien, wie z. B. für medizinische Geräte.

>> Alles, was Sie über die Schweizer Uhrenindustrie wissen müssen, kurz erklärt:

Mehr

Ist der tendenzielle Rückgang des Volumens an Schweizer Uhren im unteren Preissegment ein Problem für Ihre Komponentenlieferant:innen?

Das ist ein ernstes Problem. Innerhalb von 20 Jahren hat die Schweizer Uhrenindustrie im unteren Preissegment ein Drittel ihres Volumens verloren, und das ist sehr besorgniserregend.

Um diese Probleme zu mildern, könnten die Komponentenhersteller meiner Meinung nach ihre Produktionsanlagen stärker anpassen, um auch bei kleinen Aufträgen wettbewerbsfähig zu bleiben.

Im oberen Preissegment werden Schweizer Uhren weitgehend von Hand gefertigt. Wäre es möglich, diese Tätigkeit stärker zu automatisieren?

Nicht wirklich, denn die Prozesse sind hochkomplex und die Volumina gering. Ausserdem ist es gerade die Handarbeit hochqualifizierter Handwerker, für die die Endkunden bereit sind, beträchtliche Beträge auszugeben.

Ist die amerikanische Firma Fossil, die Uhren für viele Bekleidungsmarken herstellt, Ihr Hauptkonkurrent?

Fossil arbeitet in der Tat für viele Bekleidungsmarken, aber mit einem Geschäftsmodell, das sich sehr von unserem unterscheidet. Da sie auch eine eigene Marke haben, verfügen sie über ein Vertriebsnetz und stellen dieses auch ihren “Private Label”-Kunden zur Verfügung.

Unsere Hauptkonkurrenz ist die Politik von Uhrenmarken, die es vorziehen, alles intern zu machen, anstatt einen Grossteil ihrer Aktivitäten auszulagern.

Die Schweizer Uhrenexporte erleben Rekordjahre. Was ist mit Roventa-Henex?

2023 wird ebenfalls ein Rekordjahr für unser Unternehmen sein, da unser Umsatz im Vergleich zu 2022, das bereits ein gutes Jahr war, um 40 % steigen wird.

Ich beobachte jedoch, dass die Lagerbestände unserer Kunden hoch sind, sodass ich für 2024 mit einer Verlangsamung rechne.

Editiert von Samuel Jaberg, aus dem Französischen übertragen von Marc Leutenegger

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft