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Schweizer Startup schafft Sprung auf Top-100-Liste des WEF

Die Brasilianerin Francine Gervazio leitet seit Mai 2021 das internationale Startup Avrios in Zürich. Avrios

Das Schweizer Unternehmen Avrios wurde vom Weltwirtschaftsforum (WEF) auf die Liste der 100 vielversprechendsten Tech-Pioniere 2021 ausgewählt. Geschäftsführerin Francine Gervazio ist sehr stolz und hat mit ihrer Firma, die Software für Flottenmanagement entwickelt, grosses vor, wie sie im Interview verrät.

Avrios, 2015 gegründet, entwickelt eine Software für die vollständig digitalisierte und automatisierte Bewirtschaftung von Fahrzeugparks. Das internationale Startup beschäftigt 50 Personen aus 20 Ländern. Risikokapitalgeber steuerten zur Finanzierung rund 30 Millionen Franken bei. Zu den Hauptinvestoren gehören Swisscom Venture, Lakestar und Notion Capital.

Im Juni erfolgte dann der Ritterschlag: Avrios erschien auf der WEF-Liste der 100 “Technology Pioneers 2021”Externer Link. Dabei handelt es sich um junge Unternehmen, deren Technologien einen bedeutenden Einfluss auf die Wirtschaft und ganz allgemein auf die Gesellschaft haben dürften. Unternehmen wie Airbnb, Google, Spotify und Twitter gehören zu den früheren Technologiepionieren des WEF.

Frauen sind in den oberen Etagen der Wirtschaft immer noch stark untervertreten. So sind beispielsweise nur 13% der 20 Unternehmen im Leitindex SMI der Schweizer Börse mit Frauen in Führungspositionen besetzt. In dieser Hinsicht schneidet die Schweiz im internationalen Vergleich schlecht ab.

swissinfo.ch lässt im Rahmen einer Serie in diesem Jahr Geschäftsführerinnen von weltweit tätigen Schweizer Unternehmen zu Wort kommen. Als Vertreterinnen der Schweizer Wirtschaft sprechen sie über die dringlichsten Herausforderungen, von der Coronavirus-Krise bis zum Platz der Schweiz und ihrer Unternehmen in der Weltwirtschaft.

swissinfo.ch: Welche Vorteile bringt Ihnen die Selektion zum “WEF-Technologiepionier”?

Francine Gervazio: Unser ganzes Team ist natürlich sehr stolz, als einziges Schweizer Startup vom WEF ausgewählt worden zu sein. Ich betrachte diese Nominierung sogar als einen sehr wichtigen Schritt für die Entwicklung von Avrios.

Dieser Status eines “technologischen Vorreiters” wird es uns insbesondere ermöglichen, an wichtigen Diskussionen über die Zukunft der Mobilität teilzunehmen. Im Rahmen dieser Diskussionen wird die Förderung nachhaltiger Lösungen sicherlich ein zentraler Punkt sein.

Wie werden Sie die Anerkennung durch das WEF konkret nutzen, um Ihr Unternehmen weiterzuentwickeln?

Die Tatsache, ein “technologischer Pionier” des WEF zu sein, bringt uns grosse Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit. Dies wiederum gibt uns die Möglichkeit, unser Kontaktnetz zu stärken. Ich denke etwa an Investoren und potenzielle Partner. Doch ich möchte festhalten: Wir verfügen bereits über eine gute Basis an Investoren, und bis Ende dieses Jahres müssen wir keine neuen Finanzen auftreiben.

Bei Ihrem Flaggschiff-Produkt, der Software für die Verwaltung von Fahrzeugflotten, gibt es viele Konkurrenten. Worin unterscheiden Sie sich von anderen Anbietern?

Das von uns angebotene System ist nicht nur für die Verwaltung eines Fuhrparks ausgelegt, sondern bietet eine Vielzahl von Zusatzfunktionen. Dazu gehört zum Beispiel die Möglichkeit, die Gesamtbetriebskosten eines Fuhrparks zu ermitteln und zu kontrollieren. Auf diese Weise kann ein Fuhrparkleiter wichtige und richtige Entscheidungen treffen, etwa zum Ersatz von Benzin- durch Elektrofahrzeuge.

Francine Gervazio ist eine Selfmade-Unternehmerin. Sie wuchs in ihrem Heimatland Brasilien auf, wo sie an der Universität von São Paulo Betriebswirtschaft studierte. Dank eines Stipendiums erwarb sie zusätzlich einen MBA am Babson College in den USA.

Die Brasilianerin stiess im Januar 2018 zu Avrios und hat seit Mai 2021 die Position des Chief Executive Officer (CEO) inne. Zuvor war sie Mitbegründerin eines Startup-Unternehmens im Bereich Logistik und verantwortlich für Easytaxi im südlichen Lateinamerika.

Bei Avrios arbeiten überdurschnittlich viele Frauen, was für ein IT-Unternehmen aussergewöhnlich ist.

Wie gehen Sie vor, um neue Kundschaft zu gewinnen?

Wir akquirieren neue Kunden ausschliesslich auf digitalem Weg, im konkreten Fall durch Online-Werbekampagnen. Wir verwenden eine ziemlich klassische Methode, die gut funktioniert: Wir stellen eine vereinfachte Version unserer Software kostenlos zur Verfügung. Diese erlaubt es den Fuhrpark-Verwaltern, den Nutzen unseres Angebots besser zu verstehen.

Für ein Upgrade auf die Vollversion müssen Flottenmanager durchschnittlich zehn Euro pro Monat und Fahrzeug bezahlen. Für Unternehmen mit grossen Flotten bieten wir darüber hinaus ein Paket an, das die Integration unserer Lösung in die bestehende IT beinhaltet, zum Beispiel in ein SAP-System.

Wie hoch ist ihre Kundenbindungs-Rate?

Zurzeit haben wir 900 Kunden. Erfreulicherweise ist es uns immer gelungen, die meisten dieser Kunden zu halten. Darüber hinaus gelingt es uns im Lauf der Zeit sogar, ihnen zusätzliche Dienstleistungen zu verkaufen.

Gibt es internationale Expansionspläne?

Derzeit decken wir Deutschland, Österreich und die Schweiz sowie Italien ab. Unser Ziel ist es, bis Ende 2022 in zwei neuen europäischen Märkten präsent zu sein. Um dieses Ziel zu erreichen, haben wir eine Reihe von Ländern in der engeren Wahl und führen derzeit Tests durch.

Die europäischen Märkte sind ebenso wie der US-amerikanische Markt besonders interessant, weil es in diesen Ländern eine grosse Offenheit für nachhaltige Lösungen gibt, die auch den Einsatz von Elektroautos beinhalten.

Profitieren Sie von Grössenvorteilen im Sinn eines Skaleneffekts?

Auf alle Fälle. Eine Verdoppelung des Umsatzes lässt unsere Kosten nur um 20% ansteigen. Diese Kosten sind hauptsächlich zurückzuführen auf die Software-Entwicklung, das Marketing und den Kundendienst. Um einen maximalen Skalierungseffekt zu ermöglichen, automatisieren wir ausserdem so weit wie möglich unsere Kundenbeziehungen.

Ist Zürich als Standort ideal für die Gründung und Entwicklung eines internationalen Startups?

Sagen wir so: Die hohen Kosten werden durch das neutrale Image des Standorts ausgeglichen sowie durch die Möglichkeit, fähige Mitarbeitende aus ganz Europa anzuziehen. In unserem Fall mussten wir nicht einmal nach Personen ausserhalb Europas suchen, was uns den Aufwand rund um die Beantragung der entsprechenden Arbeitsgenehmigungen ersparte.

In Bezug auf das Risikokapital sind in der Schweiz genügend Finanzen vorhanden, zumindest für die Anfangsphase von Startups. Die Hauptinvestoren unseres Unternehmens – also Lakestar und Swisscom Ventures – sind in der Schweiz ansässig.

Was wäre das ideale Szenario für Ihre Firma für die nächsten zehn Jahre?

Unser Ziel ist es, ein führender Player in Europa zu werden. Um dies zu erreichen, wollen wir nicht nur in neuen europäischen Ländern präsent sein, sondern auch zusätzliche Dienstleistungen anbieten – ich denke beispielsweise an gewisse Transaktionen über unseren “Marktplatz”. Generell wollen wir ein wichtiger Partner bei der Digitalisierung aller für das Flottenmanagement notwendigen Prozesse werden.

Vorerst konzentriere ich mich aber auf unser operatives Wachstum. Zu gegebener Zeit und in Abhängigkeit von den sich bietenden Gelegenheiten werden wir jedoch sehen, ob sich ein Börsengang oder ein Verkauf an einen grossen Konzern als attraktive Gelegenheit erweisen wird. Im Moment ist es wichtig, dass wir uns alle Optionen offenhalten.

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