Ein Tag auf einem Bauernhof von Pro Specie Rara
Sie heissen Wollschwein, rhätisches Grauvieh und Honigapfel. Es sind bedrohte Nutztierrassen und Kulturpflanzen, die man heute auf Schweizer Bauernhöfen kaum mehr findet. Doch auf einem Hof in der Freiburger Gemeinde Châtel-St-Denis werden sie noch gehegt und gepflegt. Ein Besuch bei Stephane Vial-Colliard.
Es ist fünf Uhr morgens, und das Mondlicht scheint noch immer auf die Hügel der freiburgischen Gemeinde Châtel-St-Denis. Stéphane Vial-Colliard stapft mit seinem Werkzeug zum Stall. Dort sind seine Ziegen untergebracht. Es sind Appenzellerziegen, eine uralte Schweizer Rasse mit weissem strähnigem Fell. Bald durchbricht das Geräusch der Melkmaschine die morgendliche Stille.
Stéphanes Bauernhof, La Ferme des Sens, ist eine Art Schweizer Arche Noah: Fast sein gesamtes Obst, Gemüse, Vieh und Geflügel stehen auf der Liste der vom Aussterben bedrohten Schweizer Arten. Hier haben die seltenen Tiere und Pflanzen ein Refugium erhalten, hier können sie gedeihen.
Von den Appenzellerziegen gibt’s in der Schweiz nur noch wenige. Für die meisten Züchter lohnt es sich wirtschaftlich nicht, diese Tiere zu halten, denn die modernen Rassen wachsen schneller und sind deshalb einträglicher. Die Appenzellerziege hat aber Vorteile: Sie ist widerstandsfähig und gibt viel Milch. Ausserdem hat sie eine grosse historische und kulturelle Bedeutung und wurde lange Zeit als typische Schweizer Ziege in Malereien abgebildet.
Schimmernde Kühe
Nach dem Melken ist Stéphanes erste landwirtschaftliche Aufgabe des Tages abgeschlossen. Die Landschaft wird allmählich lebendig, die Sonne geht auf. An den Wochentagen fährt Stéphane seinen Sohn zur Schule in der Stadt, kehrt danach auf seinen Hof zurück, führt die Ziegen zum Weiden an den Hang und lässt danach seine neun rhätischen Graurinder auf die Wiese.
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Stéphanes Bauernhof
Auch diese Tiere sind vom Aussterben bedroht. Sie sehen speziell aus: Im Unterschied zu den meisten Alpenkühen hat das Grauvieh keine grossen Farbflecken. Ihr silbergrauer Mantel hat einen schönen, gleichmässigen Farbverlauf.
Auch diese Rasse bringt kaum wirtschaftliche Vorteile: Das rhätische Grauvieh ist kleiner als moderne Rassen. Die Fütterung ist aber kostengünstiger, da es mit minderwertigem Gras oder Heu zufrieden ist, was wiederum den Wert dieser Gräser erhöht. Dank seines geringen Gewichts und der relativ grossen Hufe eignet es sich zudem gut für steile Hänge.
Rare Arten
Anders als die meisten modernen Rassen sind die bedrohten Arten wie das rhätische Grauvieh uralt, kleiner und haben ein natürlich entwickeltes Erbgut. Ihr Wachstumszyklus ist etwas länger und die Fleischproduktion oft niedriger. Aus diesen Gründen sind viele solche Arten unbeliebt geworden – einige sind sogar komplett ausgestorben.
Diese Entwicklung weg von traditionellen Rassen geschieht seit 200 Jahren, seit die Industrialisierung der Landwirtschaft begonnen hat. Das hat auch zur Folge, dass die genetische Vielfalt in den verbleibenden Tierbeständen verringert wird. Und dieser Mangel an genetischer Vielfalt bedeutet mehr Inzucht und somit auch weniger Resistenz gegen Krankheiten.
Die alten Rassen haben aber viele Eigenschaften, die sie für Züchter interessant machen: Sie haben grundsätzlich stabilere genetische Eigenschaften und können sich besser an ihre Umwelt anpassen. Sie können auf dürftigem Gras gedeihen. Deshalb ist die Arbeit der gemeinnützigen Stiftung Pro Specie Rara, welche diese gefährdeten Arten schützen und wieder ansiedeln will, so wichtig.
Pro Specie Rara
Pro Specie Rara ist eine gemeinnützige Schweizer Stiftung. Sie wurde 1982 mit dem Ziel gegründet, vom Aussterben bedrohte Nutztierrassen und Kulturpflanzen zu erhalten. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich Pro Specie Rara zu einer führenden Organisation auf diesem Gebiet entwickelt und arbeitet eng mit den relevanten Verbänden, Bauern und Züchtern zusammen. Die Stiftung zählt rund 3000 Privatpersonen und Institutionen als Mitglieder. Durch ihre Arbeit konnten gemäss Pro Specie Rara viele einheimische Arten vor dem Aussterben bewahrt werden.
Struppige Schweine
Stéphane ist eine von rund 3000 Personen und Institutionen in der Schweiz, die Mitglied von Pro Specie Rara sind. Er übernahm vor sieben Jahren den Hof von seinem Grossvater. Er reparierte die Gebäude und begann mit der Pflege der Brachflächen.
Er fing an, gefährdete Tiere und Pflanzen zu züchten. Ausserdem richtete er geschützte Bereiche für frei lebende Schmetterlinge und Spinnen ein. Dafür erhält Stéphane Geld, hauptsächlich vom Bund, aber auch vom Kanton.
Nebst den Appenzellerziegen und den rhätischen Rindern hält Stéphane seltene weisse Schweizer Hennen, Appenzeller Barthühner und 13 struppige Mangalica-Schweine. Diese Wollschweine sind kleiner als gewöhnliche Schweine.
Ihr Fleisch ist vielleicht nicht so zart wie das Fleisch der rosafarbenen, glattborstigen Schweine, aber sie können der Kälte besser trotzen. Dies bedeutet, dass sie länger draussen bleiben können, was das Wachstum bestimmter Pflanzen in der Umgebung kontrolliert und somit dem ökologischen Gleichgewicht hilft.
Es geht nicht ohne Zweitjob
Melken, füttern, mähen – das Leben eines Bauern ist härter als das eines Städters. Und weil er sich an die ökologischen Standards hält und weniger Ertrag hat, muss Stéphane länger arbeiten. Aber er geniesse es immer noch, sagt er.
Er habe es nie bereut, seinen Hof auf diese Art zu führen. «Ich glaube, dass nur durch den Schutz und die Zucht dieser seltenen Arten der Verlust genetischer Ressourcen vermieden und ihr Überleben gesichert werden kann», sagt Stéphane.
Da er sich der Beziehung zwischen Biodiversität und nachhaltiger Landwirtschaft bewusst ist, weiss er, dass die Dinge bei ihm immer etwas länger dauern. Und er beklagt sich nicht über die niedrigen Erträge.
Der Hof erwirtschaftet nicht genug, um die Bedürfnisse seiner Familie zu decken. Deshalb arbeitet er nachmittags in einem Heim für geistig Behinderte.
Und mittlerweile lassen sich die beiden, auf den ersten Blick unzusammenhängenden Jobs verbinden: Stéphane lädt regelmässig die Heimbewohner auf seinen Bauernhof ein, wo sie mit Aktivitäten aushelfen und in Kontakt mit seinen speziellen Tieren kommen. So helfen sie ihm auch im Hofladen, der jeden Freitagnachmittag geöffnet hat. Hier werden Bioprodukte von Stéphanes Hof aber auch von umliegenden Bauern angeboten.
Stille Revolution
Man spürt die Liebe von Stéphane zur Natur, der Umwelt und den Mitmenschen. Der Hofladen von Stéphane sieht im Vergleich zu Geschäften in der Stadt mit all ihren ausgefallenen Dekorationen und Lichtern eher kahl aus. Dies macht das an der Wand hängende Filmposter umso auffälliger.
Es bewirbt den Schweizer Dokumentarfilm Silent Revolution, der von einem Bauer handelt, der auf biologische Landwirtschaft umstellt. Auf dem Plakat ist der Landwirt abgebildet, lächelnd in einem Weizenfeld. An der oberen rechten Ecke steht ein Zitat des französischen Landwirts und Aktivisten Pierre Rabhi: «Ohne die innere Verwandlung des Einzelnen wird die Verwandlung der Welt scheitern.»
Bio-Produktion und bedrohte Arten
Der ökologische Landbau beschäftigt sich intensiv mit der Natur und den natürlichen Pflanzenzyklen. Er vermeidet den Einsatz synthetischer Pflanzenschutzmittel und Mineraldünger.
Die sogenannten gefährdeten Arten sind vom Aussterben bedroht, sei es, weil sie gejagt werden oder weil ihr Lebensraum kleiner wird. Gemäss Roter Liste der Weltnaturschutzunion IUCN werden bedrohte Arten in vier Kategorien unterteilt: «vom Aussterben bedroht», «stark gefährdet», «gefährdet» und «potenziell gefährdet».
(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)
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