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Ukraine: Der Krieg erreicht die Schweizer Kolonie Shabo

Schweizer Siedler:innen in Shabo
1822 folgte eine Gruppe Schweizer:innen dem Ruf des russischen Zaren Alexander, der ihnen am Schwarzen Meer ein besseres Leben versprach. Schweizerisches Sozialarchiv

Man könnte das feiern, aber der Krieg rückt an: Vor exakt 200 Jahren gründeten Schweizer Siedler:innen in der Ukraine die Kolonie Shabo. Im Zweiten Weltkrieg wurden sie vertrieben. Überdauert hat die Schweizer Weinkultur. 

Die Invasion scheint unaufhaltbar. Russland verbindet im Süden der Ukraine der Küste entlang die Donbass-Region über Mariupol mit der Krim. Ziel der Russen ist auch Odessa, um die Ukraine vom Meerzugang abzuschneiden – was die ukrainische Wirtschaft schwer träfe.

In dieser hart umkämpften Region, rund 70 Kilometer südwestlich von Odessa entfernt, liegt die ehemalige Schweizer Kolonie Shabo (Französisch Chabag). Sie wurde 1822 von Schweizer Auswanderern gegründet.

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Damals versuchten verarmte Schweizer:innen der wirtschaftlichen Misere in der Heimat zu entfliehen. Sie folgten dem Ruf des russischen Zaren Alexander, der ihnen am Schwarzen Meer wirtschaftliche und gesellschaftliche Privilegien versprach.

So zogen sie als Bauern ins ehemalige Zarenreich aus, um in Bessarabien eine neue Existenz aufzubauen. Eine Landschaft, die in der Geschichte immer wieder in territoriale Konflikte grosser Mächte verwickelt war.

Schweizer Rebberge am Schwarzen Meer

Vor allem französischsprachige Weinbauern aus dem Kanton Waadt siedelten sich in Shabo an. Am 19. Juli 1822 brachen sie in Vevey auf. Sie machten sich mit Pferdewagen auf die 2137 Kilometer lange Reise via Bern, Zürich, St. Gallen, München, Wien, Lemberg (Lwiw, Ukraine), Chisinau (Moldawien) und Akkermann (heute Bilhorod-Dnistrovskyi, Ukraine), 60 km von Odessa entfernt.

Weg von Vevey nach Odessa
Vor 200 Jahren machten sich die Schweizer Siedler:innen auf den 2137 Kilometer langen Weg nach Shabo. Hugo Schaer

Drei Monate waren sie unterwegs. Schliesslich liess sich die Gruppe von 30 Personen an der Lagune der Dnjestr-Mündung ins Schwarze Meer nieder. Vor Erschöpfung starben bei der Ankunft die sieben Pferde, die den Reisewagen gezogen hatten.

Der Start war nicht einfach für die Auswanderer:innen, die Ernte fiel aus und die Kolonie wurde von der Pest heimgesucht. Doch nach anfänglichen Schwierigkeiten entwickelte sich Shabo bald zur blühendsten Weinbaukolonie am Schwarzen Meer.

Obwohl in den 1870er-Jahren die gewährten Privilegien für die Schweizer:innen beendet wurden – ab dann mussten auch Schweizer Männer Militärdienst leisten – , zählte Shabo im Jahr 1940 rund 900 Einwohner:innen.

Davon waren etwa 400 waadtländischer und 250 deutschschweizerischer Herkunft, der Rest Russlanddeutsche. Das Dorf war wohlhabend und soll beispielsweise über vier Kegelbahnen, ein Ortsmuseum und eine reich ausgestattete Bibliothek verfügt haben.

Kaum noch sichtbare Schweizer Hinterlassenschaften

Über die Jahrzehnte entwickelte sich in der Schweizer Kolonie ein Schabner DialektExterner Link – eine Mischung aus Schweizerdeutsch und Schwäbisch, durchsetzt mit französischen, russischen, rumänischen, ukrainischen und jiddischen Wörtern.

Bild des Museums
Das Shabo Wine Culture Museum erinnert an die Geschichte des Ortes. Elena Simonato

Über das Leben in der Kolonie erzählt Elena SimonatoExterner Link, die an der Universität Lausanne zu Schweizer Kolonien im Russischen Reich geforscht und publiziert hat: “Eine wichtige Voraussetzung war die Einhaltung der richtigen Lebensweise. Beim kleinsten Verstoss folgten Bestrafungen. Missetäter mussten etwa eine bestimmte Anzahl Gräben zum Schutz des Viehs vor Wölfen ausheben.”

Spuren der Schweizer Kolonist:innen sind heute nur noch wenige zu finden. Strassen tragen zwar noch Namen wie “de la Harpe-Strasse” oder “Helvetia-Strasse”, ein Gedenkstein erinnert an den Schweizer Friedhof. Viele Gebäude, wie etwa die reformierte Kirche oder das Schulhaus, wurden 1940 bei der Invasion der Roten Armee umfunktioniert und von den deutschen Truppen teilweise zerstört.

Das erste ukrainische Weinkulturzentrum

Der Einmarsch setzte den goldenen Zeiten Shabos ein jähes Ende. Die meisten Schweizer:innen flohen damals Hals über Kopf – einige über Umwege in die alte Heimat, andere nach Übersee. Diejenigen, die sich entschieden haben zu bleiben, wurden enteignet und ein paar sogar in den Ural deportiert. Es gibt nur noch vereinzelte überlebende Zeitzeug:innen in der Schweiz.

Rebberge
Shabo ist noch heute für seinen Wein bekannt. Elena Simonato

Die importierte Weinkultur der Schweizer Winzer:innen am Schwarzen Meer ist geblieben. 2003 übernahm ein georgischer Geschäftsmann die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft der ehemaligen Sowjetunion und investierte in eine moderne Weinkellerei. 2009 wurde in Shabo das erste Weinkulturzentrum der Ukraine eröffnet. Bis zum Kriegsausbruch 2022 exportierte die ehemalige Schweizer Kolonie Wein in über 18 Länder rund um die Welt.

200 Jahre ist es her, seit Shabo gegründet wurde. Zu diesem Jubiläum hätte die Siedlerkirche, die von den Sowjets zerstört wurde, renoviert werden sollen, so der Schweizer Journalist Olivier GrivatExterner Link, der 2014 eine Dokumentation über die Schweizer Kolonie produzierte. Dazu wird es wohl in diesen schwierigen Zeiten nicht kommen.

Um die sich humanitäre Krise in der Ukraine zu bewältigen, hat die Glückskette eine Spendenaktion gestartet. Zuwendungen können ab sofort unter www.glueckskette.chExterner Link oder auf das Postkonto 10-15000-6, Vermerk “Krise in der Ukraine” getätigt werden.

In einer ersten Phase wird sich die Hilfe auf die Aufnahme der Flüchtlinge in den Nachbarländern, insbesondere in Polen, konzentrieren. Die Glückskette arbeitet mit der Caritas, dem Schweizerischen Roten Kreuz, mit HEKS, Helvetas, Medair, Ärzte ohne Grenzen und der Stiftung Terre des hommes zusammen. Abhängig von der Entwicklung will die Glückskette ihre Unterstützung auf Hilfsprojekte innerhalb der Ukraine ausweiten. Die Spenden werden ausschliesslich für die humanitäre Hilfe verwendet.

Die Glückskette ist eine unabhängige Stiftung, sie hat ihre Wurzeln in einer Westschweizer Radiosendung und gilt heute als der humanitäre Arm der SRG SSR, zu der auch SWI swissinfo.ch gehört.

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