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Auch die Biowissenschaften haben keine Glaskugel

Glaskugel
Keystone / Axel Heimken

Gefühlt war das öffentliche Interesse an Neuigkeiten aus den Biowissenschaften nie grösser als seit Beginn der Pandemie. Doch wieso scheint es, als würden Forschende dieser Fachrichtung ihre Meinung ständig ändern? Die Virologin Fanny Georgi gibt einen Einblick.

Die Ironie, eine Doktorarbeit zur Suche nach neuen Wirkstoffen gegen Virusinfektionen auf Grund einer Pandemie vom heimischen Laptop aus verteidigen zu müssen, lässt sich wohl schwer leugnen. Wie viele Absolvierende in den vergangenen zwei Jahren erzählte ich – statt in einen gut gefüllten Vorlesungssaal – meinem Laptop von meiner Arbeit der letzten fast sechs Jahre, fernab von meiner Familie und meinen Freunden.

Dennoch brachte mir mein Umfeld so viel Interesse für meine Forschung entgegen, wie nie zuvor: Was hältst du von diesem Coronavirus? Das kann doch nicht natürlich entstanden sein! Jetzt doch dreimal impfen, ständig ändern die ihre Meinung!

“Die”, damit war die Wissenschaft gemeint. Dabei stellte ich fest, dass sich nicht nur jene über Aktualisierungen wunderten, die praktische Berufe gelernt oder ganz andere Fachrichtungen studiert hatten. Auch Forschende anderer naturwissenschaftlicher Fächer, äusserten ihr Unverständnis über das gefühlte Hin und Her.

Was sind die Biowissenschaften?

Die Biowissenschaften erforschen Strukturen und Prozesse von und mit Organismen – von molekularen bis hin zu weltweiten Zusammenhängen. Lasst uns zur Veranschaulichung sagen, die Welt sei ein Labyrinth aus überhohen Hecken.

Die Biowissenschaften wollen dieses Labyrinth durchqueren. Eine Disziplin erforscht die Wegführung. Eine andere untersucht, ob man Löcher durch die Hecken schneiden kann. Wieder eine Gruppe untersucht, ob man Tunnel graben könnte.

Um den schnellsten Weg durch ein Labyrinth zu finden, benötigt es die Zusammenarbeit von zahlreichen Forschenden, die ihr Wissen teilen. Gleichzeitig verschafft dieses Wissen anderen vielleicht einen Vorsprung durch unser Labyrinth, oder in der akademischen Welt zur Professur, Fördermitteln oder Preisen.

Also arbeiten alle umso emsiger und berichten über ihre Ergebnisse. Doch bahnbrechende Entdeckungen widersprechen der gängigen Lehrmeinung, und sie werden leidenschaftlich diskutiert. Ein Team berichtet von Stacheln in der Hecke, aber die hat noch niemand vorher gefunden. Haben etwa alle zuvor nicht richtig nachgesehen? Nein, denn die Gruppe hat eine neue Untersuchungsmethode entwickelt, welche die Stacheln erst sichtbar machte.

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Was unterscheidet “die” Biowissenschaften von anderen Naturwissenschaften?

Bis hierher werden Forschende anderer Fachrichtungen kaum Unterschiede zu ihrer Arbeit festgestellt haben. Aber: Im Vergleich zu anderen Disziplinen verändert sich der Forschungsgegenstand der Biowissenschaften unablässig.

Alle Lebewesen entwickeln sich und ihr Verhalten ständig weiter, teilweise sogar als Reaktion auf unseren Umgang mit ihnen. Für unser Labyrinth bedeutet das: Es wächst unaufhörlich und wandelt sich. Und so könnten die Stacheln der Gruppe von vorhin auch eine Abwehrreaktion gegen das Beschneiden der Hecke gewesen sein.

Schaffen die Biowissenschaften eigentlich Wissen?

So sehr sich auch alle Forschenden bemühen, wir werden niemals alles über alle Lebewesen wissen – schon allein, weil wir einen grossen Teil der Arten noch nicht einmal entdeckt haben.

Und ganz besonders im Kleinen gibt uns vieles noch immer Rätsel auf. Wie beispielsweise Virusinfektionen funktionieren und wie wir sie behandeln können, können wir heute zwar gut auf zellulärer Ebene untersuchen.

Dafür arbeiten wir mit Modellen von menschlichen Zellen, die sich im Labor einfacher kultivieren lassen – vergleichbar mit einem Löwenzahn statt einer Buchenhecke. Mit schnell wachsenden, genetisch identischen Löwenzähnen können wir durch mehrmaliges Wiederholen des exakt gleichen Versuchs statistisch zeigen, dass wir nicht nur einem Zufall aufgesessen sind.

Was haben Mäuse mit dem Wettlauf gegen die Pandemie zu tun?

Anschliessend steht man allerdings vor der Herausforderung, die Ergebnisse vom Zellmodell auf den Menschen zu übertragen. Vielleicht führt der längere Transport in verholzten Zellen in der Hecke ja zu gefährlichen Nebenwirkungen?

In der Medikamentenentwicklung ist daher der Umweg über ein Tiermodell vorgeschrieben, um Menschen zu schützen. Im Falle von an den Menschen angepassten Viren ist es aber oft nicht einfach, ein geeignetes Tier als Modell zu finden. Beispielsweise kann sich das am weitesten verbreitete Modelltier, die Maus, natürlicherweise gar nicht mit dem aktuell pandemischen Coronavirus infizieren.

Für diesen und viele andere Krankheitserreger hat die Möglichkeit, Tiere gentechnisch in wichtigen Merkmalen gezielt zu verändern, Tierexperimente erst ermöglicht. Ohne diese Experimente wüssten wir heute sehr viel weniger über das Virus und hätten heute wahrscheinlich weder Impfung noch Medikamente. Doch auch bei der Übertragung von Erkenntnissen vom Tiermodell auf den Menschen bleiben Unvorhersehbarkeiten.

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Wie verlässlich sind also biowissenschaftliche Aussagen?

Und warum widersprechen sich Forschende scheinbar oft? Das Forschungsgebiet ist zum einen so komplex, dass eine einzige Person es unmöglich überblicken kann. Auch verändert sich der Forschungsgegenstand ständig.

Zudem gilt es, Zusammenhänge aus Modellen mit ihren ganz eigenen Limitationen abzuleiten und durch Wiederholungen zu bestätigen. Dies führt dazu, dass es keine absolute Sicherheit, sondern nur Wahrscheinlichkeiten gibt.

Wir sehen immer nur das, worauf wir unseren Blick richten, und Beobachtungen können unterschiedlich interpretiert werden. Erst nach einem jahrelangen intensiven Diskurs und der Reproduktion von Ergebnissen werden neue Beobachtungen zur anerkannten Lehrhypothese.

Und was heisst das alles für Dich?

In der Pandemie, in der plötzlich ein breites öffentliches Interesse an Informationen zum Coronavirus, dessen Varianten und der vom ihm ausgelösten Krankheit bestand, rückte dieser Diskurs unvermittelt in die Öffentlichkeit.

Der Wunsch nach sicheren Leitlinien kollidierte mit den neusten, bedingten Aussagen von Forschenden und führte nachvollziehbar zu Unsicherheit. Dabei kann auch die Wissenschaft die Zukunft nur abschätzen. Besonders angesichts des entscheidenden Faktors, den jede und jeder selbst in der Hand hat: das eigene Verhalten.

Zu guter Letzt möchte ich anmerken, dass dieser Text die persönlichen, nicht repräsentativen Beobachtungen einer Einzelperson wiedergibt, er kann und soll nicht für alle Forschenden der Biowissenschaften sprechen.

Dieser Artikel wurde am 5. Januar 2022 auf Higgs.ch veröffentlichtExterner Link, dem ersten unabhängigen Magazin für Wissen in der Schweiz. SWI swissinfo.ch veröffentlicht Beiträge von Higgs in loser Folge.

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