Verstädterung bedroht Kernland der Schweiz
Die Schweizer Landschaft wird immer mehr von Städten überdeckt. Eine neue Studie sagt voraus, dass das Gebiet von Zürich bis Genf dereinst aus einer riesigen "Stadt" bestehen wird.
Laut den Autoren von «Stadtland Schweiz» sind die Behörden heute nicht dafür gerüstet, mit dieser Verstädterung fertig zu werden.
Der Wildwuchs der Städte in die umgebende Landschaft ist natürlich nichts Neues. Und auch nichts rein Schweizerisches. Aber die Autoren der Studie glauben, dass man in der Schweiz noch zu wenig darüber informiert ist, was da vor sich geht.
«Dieses Buch will vor allem die Diskussion eröffnen», erklärt Angelus Eisinger von der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich.
«In der Schweiz glauben auch heute noch viele Leute, dass sie in einem ländlich-geprägten Land leben. Dabei sind über 70 Prozent des überbauten Gebiets eine Mischung von Stadt und Land.»
Laut der Studie, die vom Schweizer Think Tank «Avenir Suisse» in Auftrag gegeben wurde, verwischen sich die Grenzen zwischen Stadt und Land immer mehr.
Avenir Suisse will mit der Studie die alte Planungsdebatte zur räumlichen Entwicklung in der Schweiz wieder anstossen. Das Thema sei aktuell, erklärt Thomas Held, der Chef von Avenir Suisse. Die Probleme rund um den Flughafen Zürich zeigten beispielshaft das Planungs-, respektive das Staatsversagen.
Landschwund
Jeden Tag verschwinden in der Schweiz 11 Hektaren Landwirtschaftsland. Das löst Besorgnis aus. Aber die Studie «Stadtland Schweiz» konzentriert sich vor allem auf die sozialen Probleme und Ansprüche, welche die Verstädterung mit sich bringt.
Ein solches Problem ist das schnelle und «planlose» Entstehen von Agglomerationen, die eigentlich neue Städte sind, welche direkt aus der Wucherung bestehender Städte entstehen.
Da solche «Städte» aber keine eigene Identität haben, werden diese grossen Einheiten auf politischer Ebene nur als die früheren «Dörfer» wahrgenommen, deren Raum sie eingenommen haben.
Als Teil seines Beitrags zu diesem Buch prüfte Professor Alain Thierstein von der ETH den Fall Glatttal, der Region in der Umgebung des Flughafens Zürich mit rund 170’000 Einwohnern und Einwohnerinnen.
Wachstumsraten
«In Bezug auf die Wachstumsraten der Bevölkerung und der Arbeitsstellen könnte Glatttal als die viertgrösste Stadt der Schweiz bezeichnet werden», führt Thierstein aus.
«Aber es hat keine eigene Lokalbehörde. Und von aussen sieht es aus, als wären das nicht viel mehr als acht oder neun kleine Gemeinden im Kanton Zürich.»
Zur Verstädterung der Region Glatttal wäre es gar nie gekommen, wenn die Leute nicht freiwillig in die Gegend gezogen wären. Aber laut Thierstein darf man sich von den Vorzügen dieser «unsichtbaren Stadt» nicht von deren Problemen ablenken lassen.
«Sie liegt im Zentrum der Schweiz und ist vielleicht der dynamischste Knotenpunkt in Sachen Wirtschaft, Technologie und Finanzdienstleistungen. Dazu kommt der Flughafen. Daher wollen die Leute hier leben und arbeiten.»
Staus, Fluglärm und mangelnde Entwicklungs-Koordination
«Es hat aber auch Nachteile wie regelmässige Verkehrstaus, Fluglärm und die fehlende Koordination in der Entwicklung des überbauten Gebiets», sagt Thierstein weiter.
Glatttal ist kein Einzelfall. Die Studie zeigt ähnliche Ansammlungen rund um Basel, um den Genfersee und in der italienisch-sprachigen Südschweiz.
Am alarmierendsten ist jedoch wohl die Warnung, wonach das Schweizer Kernland in Gefahr sei, eine riesige Stadtmasse zu werden, die sich von Genf bis Zürich und von Basel bis Lugano durch die ganze Schweiz zieht.
Das mag übertrieben tönen. Die Studie weist aber darauf hin, dass fast 70 Prozent der Schweizer Bevölkerung bereits in diesem Kernland leben, das weniger als 40 Prozent der Oberfläche des Landes ausmacht.
Herausforderung an Föderalismus
Ein Fazit der Studie ist, dass die politische Gestaltung der räumlichen Entwicklung neue Herausforderungen an den Föderalismus stelle. Dieser habe die Entstehung von Grossregionen begünstigt und behindere nun deren Entwicklung. Laut Eisinger steht die bisherige politische Schweiz auf dem Prüfstand.
Es brauche neue Formen der Zusammenarbeit, betont Thierstein. Er plädiere nicht gegen den Föderalismus, sondern für eine etwas experimentelle Politik. «Wir stehen vor einer Wende», gibt er sich überzeugt. «Wohin die Reise führt, ist aber noch unklar.»
Von jenen, die in der wachsenden städtischen Schweiz leben, werden wohl nur wenige die Studie «Stadtland» kaufen. Das Buch mit seinen Fallstudien und Grafiken richtet sich eindeutig an ein spezialisiertes Publikum. Aber die Autoren hoffen, dass die Argumente in eine breitere öffentliche Diskussion münden.
swissinfo, Mark Ledsom, Zürich
(Übertragung aus dem Englischen: Charlotte Egger)
Laut der Studie «Stadtland Schweiz» nimmt die Verstädterung der Schweiz immer mehr zu.
Deshalb stelle die politische Gestaltung der räumlichen Entwicklung neue Herausforderungen an den Föderalismus. Gerade dieser habe die Entstehung von Grossregionen begünstigt, behindere nun aber deren Entwicklung.
Es brauche neue Formen der Zusammenarbeit, eine experimentelle Politik.
«Stadtland Schweiz» ist im Verlag Birkhäuser auf Deutsch und Englisch erschienen, Preis: 88 Franken.
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