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Zürich – Hochburg der Wohnbaugenossenschaften

Siedlung Dreispitz in Schwamendingen anfangs der 1950er-Jahre.

Vor 100 Jahren, in Zeiten grösster Wohnungsnot, hat Zürichs Bevölkerung Ja gesagt zur grosszügigen Förderung des Wohnbaus.

Keine andere Stadt in der Schweiz weist bis heute so viel günstigen Wohnraum auf wie die Zürcher Metropole.

“100 Jahre gemeinnütziger Wohnungsbau in der Stadt Zürich sind eine einmalige Erfolgsgeschichte”, freut sich Monika Sprecher vom Verband für Wohnungswesen.

Von den insgesamt 200’000 Wohnungen der Stadt sind 50’000 so genannt “gemeinnützige” mit günstigen Mietzinsen.

Davon wurden 38’000 von den 110 Zürcher Wohnbaugenossenschaften erstellt, während die restlichen 12’000 von der Stadt, von Stiftungen oder Vereinen gebaut wurden.

Der Grund, weshalb Zürich eine Vorreiterrolle im gemeinnützigen Wohnungsbau hatte, liegt in der raschen Industrialisierung der Stadt ab 1860.

Zürich hatte sich zu einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt entwickelt und zog viele Arbeiter aus ländlichen Gebieten an. Das führte um 1890/1900 zu massiver Verknappung von Wohnraum.

Der Wohnungsbau hielt in keiner Weise Schritt mit der Entwicklung. “Die Wohnbedingungen im Zürich der 1880er- und 90er-Jahre waren katastrophal”, bestätigt der Zürcher Historiker Daniel Kurz.

Die Menschen hausten in engen, stickigen Wohnungen. “Man muss sich das vorstellen: oft hausten 7, 8 oder mehr Leute in diesen Zimmerchen”, so Kurz.

Der Spekulation entziehen

Entsprechend prekär war die hygienische Situation. Pro Haus gab es nur einen Wasserhahnen, selbstverständlich nur mit Kaltwasser. “Die Gefahr von ansteckenden Krankheiten, Alkoholismus, aber auch von sozialen Unruhen sass den Stadtoberen im Nacken.” Es musste etwas geschehen.

Bereits 1892 war mit der Zürcher Bau- und Spargenossenschaft die erste Mietergenossenschaft im Kanton Zürich entstanden. Initiant war der junge Zürcher Mieterverein.

Die Idee dahinter: “Statt sich Hausbesitzern und Hypothekengläubigern auszuliefern, legten die Mieter ihre paar Batzen zusammen, um daraus Grosses zu schaffen”, schreibt Kurz im Buch “Wegweisend wohnen”.

Mit dem mutigen Schritt der Zürcher Bau- und Spargenossenschaft war ein wichtiges Zeichen gesetzt, nämlich Wohnungen und Grundstücke der Spekulation zu entziehen.

Bauboom nach den Weltkriegen

Durch einen Volksbeschluss vom 21. April 1907 konnte die erste städtische Wohnsiedlung “Limmat 1” mit 225 Wohnungen in Angriff genommen werden. In der Vorlage hiess es trocken: “Die Stadt fördert die Erstellung gesunder und billiger Wohnungen.”

Fortan wurde die Stadt eine starke Partnerin in der Wohnbauförderung. Die Genossenschaften brauchten nur 10% Eigenkapital aufbringen; 1924 wurde dieser Satz sogar auf 6% reduziert.

Grosse Bauwellen gab es jeweils nach den beiden Weltkriegen, die schlimme Wohnkrisen und soziale Nöte verursachten. “Die Bankzinsen waren mörderisch hoch, das Bauland und die Baumaterialien extrem teuer”, schildert Kurz.

Aus der Selbsthilfe heraus entstanden zahlreiche Baugenossenschaften. Dieser Schub wurde möglich, weil in diesen Notzeiten der Konsens für Wohnungsbau-Subventionen in allen politischen Lagern vorhanden war, vermutet Kurz.

Kleine Grundrisse

Die Genossenschaften gingen haushälterisch mit dem knappen Geld um. Es wurde gespart, wo es nur ging. Aus Kostengründen musste der Wohnungsbau praktisch neu erfunden werden. Das hiess: kleinere Wohnungen, kleinere Grundrisse, aber trotzdem soviel Wohnqualität wie möglich.

Durch geschickte Rationalisierung wurde es im Laufe der späten 20er-Jahre aber doch möglich, den Familien einen bescheidenen Komfort zu ermöglichen. Der Einbau von Badezimmern in den Wohnungen glich damals einer kleinen Revolution.

Da Zürich durch die Eingemeindungen der Vorortgemeinden über grosse Landreserven verfügte, entstanden vor den Toren der Stadt grosse Siedlungen.

Bauland erwarb zum Beispiel die junge Arbeitersiedlungs-Genossenschaft ASIG, 1943 von engagierten Arbeitern gegründet, noch für 5.20 Franken pro Quadratmeter.

Für das Kapital, einige 10’000 Franken, bürgten die Genossenschaften Bau + Holz, die Gewerkschaft SMUV und vor allem die Stadt Zürich.

Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges konnte die ASIG in Schwamendingen bereits die ersten Häuser der Siedlung Dreispitz übergeben. In verschiedenen Bauetappen entstanden Hunderte von Wohnungen für Familien von Arbeitern und Polizisten.

Die ASIG gehört mit rund 2400 Wohnungen zu den grossen Genossenschaften in Zürich.

swissinfo, Stefan Hartmann, Zürich

Insgesamt gibt es in der Schweiz rund 1800 Wohngenossenschaften mit total 162’000 Wohnungen (Marktanteil 5%).

Etwa 75% dieser Wohnungen gehören Mietergenossenschaften, bei denen die Mitglieder auch die Mieter und Mieterinnen sind.

Bei den restlichen 25% handelt es sich um soziale Wohnbau-Genossenschaften, aber auch um Unternehmer- und Handwerker-Genossenschaften.

38% der 162’000 Genossenschaftswohnungen sind im Kanton Zürich, davon allein 23% in der Stadt Zürich.

Auch Biel oder Thun verzeichnen als wichtige Industriestandorte einen beachtlichen Anteil an Genossenschaftswohnungen.

So führte Biel prozentual im Jahr 2000 mit 19,5 % Anteil am Gesamtwohnungsbestand knapp vor Zürich mit 19,4 %.

In Thun lag er bei 13 %. Inzwischen ist Zürich als florierender Wirtschaftstandort die einzige Stadt, wo der genossenschaftliche Anteil markant wächst.

Allein seit 1995 haben die Zürcher Genossenschaften, Stiftungen und die Stadt Siedlungen mit 3000 Wohnungen gebaut. Dagegen stagniert der Bau in Biel oder in Thun.

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