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Leise Töne statt Berliner Schnauze

Die politische Debatte in der Schweiz sei weitaus sachorientierter als in Deutschland, findet der Schweizer Blogger Ronnie Grob. Julien Barrat

Sechs Wochen lang bloggt der in Deutschland lebende Schweizer Journalist Ronnie Grob aus seiner Heimat über die eidgenössischen Parlamentswahlen. Dabei stellt er beachtliche Unterschiede zu Wahlkämpfen in Deutschland fest.

Seit dem 7. September reist der 40-Jährige, der seit 2007 in Berlin wohnt, durch die Schweiz. Er besucht Wahlkampfveranstaltungen, spricht mit Kandidaten, interviewt Wähler sowie Strategen und veröffentlicht seine Texte, Fotos und Videos auf seiner website www.nachbern.chExterner Link.

Wie empfindet er, aus Berlin angereist, die Stimmung in seinem Land? “Richtig empörte Leute habe ich nirgends getroffen”, erzählt Ronnie Grob im Gespräch mit swissinfo.ch. Es liege nun einmal nicht im Schweizer Naturell, mit grossem Gestus und in voller Lautstärke Missstände anzuprangern und Forderungen zu stellen. Aus der deutschen Hauptstadt ist der Journalist da eine andere Diskussionskultur gewohnt. “Die Deutschen sind debattierfreudiger und härter in ihren Aussagen. Sie greifen den Gegner auch mal verbal an”, sagt Grob. Im Alltag könne dies befremden. Im Kontext politischer Diskussionen gefällt ihm diese Direktheit jedoch. 

Bloggen über Bern

10’430 Euro warb Ronnie Grob per Crowdfunding für die Finanzierung seines BlogsExterner Link ein. Der Journalist bloggte drei Wochen lang aus Bern und reist seit dem 25. September bis zur Wahl kreuz und quer durch die Schweiz, um Stimmungen und Stimmen einzufangen. Sein Ziel ist der etwas andere Blick auf die Wahlen.

Bei Grob kommt zum Beispiel Urs Schläfli (CVP), der laut Sonntagsblick “grösste Hinterbänkler des Parlaments”, ausführlich zu Wort. Erstaunlich frank und frei berichtete ihm auch der Cheflobbyist des Lebensmittelhändlers Migros von seinen Kontakten in die Politik. Grobs Eigenfinanzierung gibt ihm “eine erfreuliche Freiheit. Niemand macht mir Vorgaben, was ich zu schreiben habe. Aber das ist natürlich auch eine grosse Verantwortung”.

Als Grob im Bundeshaus am 9. September unerlaubterweise Fotos von der Tribüne aus machte, verlor er seine Akkreditierung. Der Zwischenfall versperrte ihm während einer Woche den Weg ins Parlament, verschaffte dem Projekt jedoch auch viel Aufmerksamkeit. Als ausdrücklicher Befürworter der Direkten Demokratie bloggte Ronnie Grob während vier Jahren zusammen mit Anwalt Martin Steiger auf der Website http://www.direktedemokratie.com/Externer Link.

Schweizer Politiker pflegten hingegen bekanntlich eine konsensorientierte Kommunikation. Das mache den offiziellen Wahlkampf zuweilen “etwas langweilig”, räumt Ronnie Grob ein. Interessant sind für ihn eher die Begegnungen mit Bürgern, die er auf oder am Rande von Veranstaltungen anspricht. Sie geben ihm gerne Auskunft über ihre Ansichten und politischen Präferenzen. “80 Prozent von ihnen haben mir bereitwillig erzählt, wen sie wählen. Diese Offenheit hat mich erstaunt, aber auch gefreut”, berichtet der Blogger. “In Deutschland reden Menschen nicht so offen darüber, wen sie wählen. Als hätten sie Angst vor Sanktionen.” 

Erstaunliche Offenheit

In seinen Gesprächen erfuhr Grob, dass gar nicht alle Schweizer bei der Nationalratswahl mitmachen wollten. “Wählen gehe ich nie, abstimmen immer”, teilte ihm beispielsweise ein junger Eidgenosse mit. Damit ist er keine Ausnahme. Nur die Hälfte aller wahlberechtigten Schweizer nutzte bei der letzten Parlamentswahl ihr Stimmrecht. In Deutschland waren es bei der Bundestagswahl 2013 dagegen 71,5 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger. Besonders wahlfaul sind junge Schweizer. Lediglich 32 Prozent der 18-24-Jährigen gaben 2011 bei den eidgenössischen Wahlen ihre Stimme ab. In dieser Altersgruppe lag der Anteil in Deutschland mit 61 Prozent fast doppelt so hoch.

Immer auf dem Prüfstand

Vielleicht könnte das Internet das Wahlinteresse der jungen Schweizer eher wecken, als die klassischen Medien es vermögen? “Das weiss ich nicht“, räumt Grob ein, dies sei auch nicht seine Intention. Er wende sich an alle, die online unterwegs seien, und nicht gezielt an jüngere, web-affinere Leser. Überhaupt liegt es nicht in seiner Absicht, die Wahlbeteiligung in die Höhe zu treiben. “Ich finde das nicht besorgniserregend. Wenn jemand nicht wählen geht, wird das schon seinen Grund haben. Vielleicht ist er ja zufrieden, wie es ist.” Nicht zu wählen sei in diesem Sinne auch als eine Art “weiter so” zu verstehen.

Falls sich der politische Kurs in eine Richtung entwickelt, die nicht behagt, bleiben im Schweizer System der halbdirekten Demokratie ja immer Referenden und Abstimmungen zur Korrektur. Keine Entscheidung ist in Stein gehauen und unabänderlich. Für deutsche Wähler stellen die Bundestagswahlen alle vier Jahre hingegen die einzige Möglichkeit dar, die Bundespolitik zu beeinflussen. Diese Chance lassen sich interessierte Bürger dann nicht entgehen.

Die Macht des Volkes mache eidgenössische Parlamentarier demütiger als ihre Berliner Pendants, ist der Journalist überzeugt. “Politiker, die zu dominant auftreten, sind dem Schweizer nicht geheuer.” Die Deutschen hingegen schätzten durchaus starke Figuren in der Politik. “Sie sind da obrigkeitshöriger, vielleicht hat das auch etwas mit der unterschiedlichen geschichtlichen Entwicklung zu tun.”

Entsprechend stark fokussieren sich in der Regel deutsche Parlamentswahlen auf die Spitzenkandidaten der jeweiligen Parteien. Sie werden im Falle einer Mehrheit von den Abgeordneten zum Bundeskanzler oder zur Bundeskanzlerin gewählt. Die CDU/CSU verdankte ihren klaren Wahlsieg 2013 laut Umfragen ganz entscheidend ihrer Parteichefin Angela Merkel – auch wenn diese gar nicht zur Wahl stand.

Angst vor direkter Demokratie

Das Schweizer System sieht eine Machtfülle, wie sie die Kanzlerin besitzt, nicht vor. Wer sich als Politiker zu sehr profiliert und allzu unbescheiden auftritt, erhält irgendwann die Quittung des Volkes. “Dadurch mag Politik weniger unterhaltsam sein als in Deutschland”, räumt der Blogger ein.” Doch das spiegle im positiven Sinn das Schweizer Naturell. Dass die Schweizer Nationalräte ihr Amt quasi im Nebenjob ausfüllten, nicht über repräsentative Büros und einen ganzen Mitarbeiterstab verfügten, helfe ihnen, auf dem Boden und näher an den Wählern zu bleiben, glaubt Grob.

Neben der fehlenden Arroganz der Macht gefällt ihm das Schweizer System noch aus einem anderen Grund: Da die Eidgenossen regelmässig über inhaltliche Themen abstimmten, sei die politische Debatte in der Schweiz weitaus sachorientierter als in Deutschland “In Berlin diskutiert man gerne über Macht und Koalitionen, in der Schweiz viel mehr über Inhalte”, so Grob.

Dabei können die Deutschen durchaus anders – wenn man sie nur lässt: Im Mai 2014 waren die Berliner zu einem Volksentscheid über die Zukunft des ehemaligen Flughafens Tempelhof in der Mitte der Stadt aufgerufen. Es ging um die Frage, ob das Feld in Zukunft gänzlich als Park zur Verfügung stehen sollte oder in Teilen zur Bebauung freigegeben. “Plötzlich fand in Berlin auf lokaler Ebene eine intensive inhaltliche Debatte statt, die ich sonst selten erlebe”, erinnert sich Grob. Auf Bundesebene aber scheine die deutsche Politik dem eigenen Volk nicht zu trauen. Immer wieder höre er Einwände, warum die direkte Beteiligung des Volkes zu viele Gefahren mit sich bringe. Schlüssig findet er sie nicht: “Die Direkte Demokratie in der Schweiz ist seit dem 19. Jahrhundert bisher eine einzige Erfolgsgeschichte.”

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